Was danach geschah

Jan C. Jansen und Jürgen Osterhammel erklären „Dekolonisation. Das Ende der Imperien“

Von Yvonne PörzgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Pörzgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob Deutsch-Westafrika oder Belgisch-Kongo, Algerien, Hongkong oder Macao: Diese und zahlreiche weitere Länder und Regionen, die einst europäische Kolonien waren, lösten sich im 20. Jahrhundert von ihren einstigen Kolonialherren. Der Verlauf dieses Prozesses war je nach Kolonie unterschiedlich. Und doch lassen sich gewisse allgemeine Merkmale ausmachen, wie Jan C. Hansen und Jürgen Osterhammel in ihrem Buch „Dekolonisation. Das Ende der Imperien“ aufzeigen.

Die Studie liefert sowohl einen Überblick über historische Dekolonisationsprozesse vor allem im 20. Jahrhundert als auch über die analytischen Methoden und Modelle, die in der wissenschaftlichen Literatur anzutreffen sind. Dabei konzentriert sie sich aufgrund der Expertise der Autoren auf die Geschichtswissenschaft. Politische und ökonomische Faktoren werden in den Einzelkapiteln behandelt, die zugehörigen wissenschaftlichen Disziplinen finden sich in der Studie aber nicht wieder. Die Autoren stellen historische Untersuchungsverfahren vor und beschreiben etwa den ereignisgeschichtlichen Zugriff im Unterschied zur historischen Soziologie und der Suche nach Verlaufsmustern oder zyklischen Regelmäßigkeiten in der Entwicklung von Imperien. Als sinnvolle Fragen, die von der Geschichtswissenschaft beantwortet werden können, schlagen sie vor: „Warum setzte eine Dekolonisationsdynamik zu einem bestimmten Zeitpunkt ein? Warum entglitt sie der Kolonialmacht oder konnte – im Gegenteil – von ihr (mit-)gestaltet werden? Warum verlief ein Prozess eher gewaltsam oder eher friedlich ab? Warum setzte er spezifische Formen von (ethnischen, religiösen, sozialen etcetera) Konflikten frei?“

In sieben Abschnitten deckt die kompakte Studie das breite Themenfeld Dekolonisation ab. In Kapitel I „Dekolonisation als Moment und Prozess“, das sich auf Definitionen und theoretische Ansätze konzentriert, charakterisieren die Autoren Dekolonisation als „einen der dramatischsten Vorgänge der neueren Geschichte“. In ihren Definitionen zeigen sie perspektivisch unterschiedliche Bedeutungen auf, die darin variieren, ob Dekolonisation aus der Sicht der Kolonisatoren als Auflösung ihrer Imperien verstanden wird oder aus der Sicht der Kolonisierten als Übernahme der Macht durch Regierungen souveräner Nationalstaaten.

Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht zwischen den Erwartungen, die vor allem in den 1950er-Jahren an den Begriff geknüpft waren und die Dekolonisation als jahrzehntelangen Übergang entwarfen, sowie den rasanten historischen Entwicklungen, die zur Unabhängigkeit zahlreicher asiatischer und afrikanischer Kolonien innerhalb weniger Jahre führten. Als wichtigsten Grund für das Ende des Kolonialismus nennen die Autoren einen Normenwandel, die „Diskreditierung jeglicher Fremdherrschaft“.

Die Autoren legen in den Kapiteln II („Nationalismus, Spätkolonialismus, Weltkriege“) und III („Wege zur Souveränität“) eine Skizze der Dekolonisationsgeschichte vor. Auch wenn die meisten Kolonialreiche den Ersten Weltkrieg überstanden, spielt er, wie die Autoren argumentieren, eine zentrale Rolle und kann als Beginn der Dekolonisation gesehen werden. Antikoloniale und nationalistische Proteste prägten vielerorts die Nachkriegszeit. Die Proteste entstanden dabei „stets aus einer konkreten kolonialen Situation“ und „waren alles andere als homogen“. Prägend waren aber in allen Fällen Konflikte zwischen Konservativen und Modernisten, zwischen Religionsgruppen und Ethnien. Über die Ziele von Protesten und die zulässigen Maßnahmen bestand in der Regel keine Einigkeit. Der Zweite Weltkrieg intensivierte wie ein „Katalysator“ Tendenzen der Zwischenkriegszeit. Besonders das freie Frankreich musste auf Druck der USA seinen Kolonien größere Selbstverwaltungsrechte zugestehen. Außer den Kriegsimperien Deutschland, Italien und Japan überstanden die Kolonialreiche aber auch diesen Krieg. Erst mit Kriegsende 1945 begann die große Dekolonisationswelle. Wie diese Prozesse abliefen, wird nach geographischen Regionen gegliedert – Asien, Naher Osten/Nordafrika und südliches Afrika – in Kapitel III nachvollzogen.

Das Kolonialsystem hatte für Kolonisierte wie Kolonisierer „umwälzende ökonomische Wirkungen“, darunter neue Infrastrukturen, neue Handelsräume, neue Arbeitsmöglichkeiten und neue Geschlechterrollen. Daraus resultierten Folgen für die Umwelt, Migration und die Umverteilung von Eigentum. Diese Veränderungen subsummieren die Autoren als „ökonomische Revolution“, der sie das IV. Kapitel widmen. Hier gehen sie darauf ein, welche Veränderungen durch die Dekolonisation herbeigeführt wurden und welche Übergangsstrategien funktionierten oder scheiterten. Die Autoren sprechen dabei sowohl mikro- als auch makroökonomische Dimensionen an. Besonders interessant wird diese Analyse an den Stellen, wo sie aufzeigen können, wie Mikro- und Makroebene in Widerspruch zueinander gerieten, zum Beispiel in Französisch-Westafrika.

Das knappe Kapitel V zu „Weltpolitik“ behandelt die Ost/West- und Nord/Süd-Konfliktformationen und dabei schwerpunktmäßig den Kalten Krieg, den sie in seiner Kontinente übergreifenden Dimension erfassen. Zentral ist die Feststellung, dass die Dekolonisation selbst „keine neue internationale Ordnung“ hervorgebracht hat.

Als Kernbegriffe der „Ideen und Programme“, die bezüglich der Dekolonisation entwickelt wurden, identifizieren die Autoren Freiheit, Selbstbestimmung und Entwicklung, verweisen jedoch auch auf deren Missbrauch durch autoritäre postkoloniale Regime. Aufschlussreich ist die dezidierte Trennung des Dekolonisationsdenkens von der Theoriebildung des Postkolonialismus.

Zum Abschluss gehen Jansen und Osterhammel in Kapitel VII: „Rückwirkungen und Erinnerungen“ auf die Auswirkungen der Dekolonisation auf die europäische Nationalstaatenbildung ein.

Der komprimierte Übersichtsband kann nicht auf die Besonderheiten jedes einzelnen Imperiums und noch weniger der einzelnen Kolonien und später unabhängigen Staaten eingehen. Die Literaturempfehlungen im Anhang verweisen auf solche Studien, die dem Interesse an speziellen Einzelfällen gerecht werden.

Die Reihe „C. H. Beck Wissen“ will nach Angaben des Verlags „anspruchsvoll, knapp und kompetent“ über kultur- und naturwissenschaftliche Themen informieren und zieht dazu anerkannte Wissenschaftler heran, die auch für interessierte Laien verständlich „konzentrierte Information“ über ihr Fachgebiet liefern.

Die Autoren gehen sparsam mit Fachvokabular um und erklären alle verwendeten Begriffe. Den Zielen der Reihe C. H. Beck Wissen wird „Dekolonisation. Das Ende der Imperien“ damit gerecht. Das Buch eignet sich gut als Einstiegslektüre für Neulinge auf diesem Gebiet und erläutert kurz und übersichtlich die wichtigsten Aspekte des Themas.

Titelbild

Jürgen Osterhammel / Jan C. Jansen: Dekolonisation. Das Ende der Imperien.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
144 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783406654640

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