Widerstand zwecklos!

Über Erich Loests Tagebuch „Gelindes Grausen“

Von Michael EschmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Eschmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erich Loests letztes Tagebuch liegt vor. Etwas mulmig blättert man darin, immerhin weiß man, dass der Autor am 12. September 2013, um 17.42 Uhr, in Leipzig den Freitod gewählt hatte. Die Uhrzeit wurde penibel von ihm selbst notiert. Noch im Sterben blieb er Chronist. Der Sprung aus einem Krankenhausfenster beendete ein bewegtes Leben. Ein Leben, das gern aneckte, das provozierte, das Mitmenschen und später auch den Leser stets neu herausforderte, in dem es eine eigene, oftmals andere, politische Sichtweise der DDR forderte. Ein lebenslanger Kampf zwischen SED und Loest fand statt. Zunächst mit einer sieben Jahre langen Inhaftierung in Bautzen. Später mit Schreibverbot. Dann kam 1981 die Ausreise nach Bonn–Bad Godesberg. Inzwischen erfolgreich in Ost und West – das Gesamtwerk wuchs auf über 70 Titel an – mischte sich der Autor immer wieder in öffentliche politische Diskussionen ein. Meist ging es um lokalpolitische Ereignisse in seiner Heimatstadt Leipzig. Verhasst waren ihm Menschen, die man umgangssprachlich gerne als „Wendehälse“ bezeichnet. Klar war: Loest mochte sie nicht und sie mochten Loest nicht.

Man warf ihm vor, er könne nur einseitig denken und handeln: schwarz oder weiß. Dies ist nicht ganz falsch. Auch in den vorliegenden Aufzeichnungen gibt es immer wieder Bekenntnisse zu ausschließlich einer politischen Richtung: zur Sozialdemokratie. Alles andere erschien wenig verlässlich, ja fast suspekt. Das Tagebuch, das streng genommen gar kein Tagebuch ist, weil es nicht tägliche, sondern gelegentliche Notizen aus allen Lebenssituationen enthält, führte er bis zum Schluss. Es ist eine gute, empfehlenswerte Lektüre zur Zeitgeschichte geworden. Ein ewiges Auf und Ab an Betrachtungen, Erlebnissen und Reflexionen. Banales steht neben Tiefsinnigem, Wichtiges neben Unwichtigem. Wen – außer Loest – interessieren heute noch die Bundesliga-Ergebnisse der letzten Jahre? Polternd zieht er über seine „Lieblingsfeinde“ Kurt Masur und Roland Wötzel immer wieder her. Die Wulff-Affäre wird erstaunlich engstirnig beschrieben. Dabei hätte gerade er, der zwei Diktaturen erleben und erleiden musste, auch die manipulative Macht der Medien bei dieser „Hexenjagd“ erkennen müssen. Kam das nicht irgendwie bekannt vor?

Wenn Massen toben – ob aus Freude oder Zorn – ist der Einzelne, ja besonders der Schriftsteller, immer wieder zur Achtsamkeit und zum Misstrauen aufgefordert. Ob man die Schriftstellerin Christa Wolf als zu angepasst gegenüber der SED empfindet oder nicht, ist Ansichtssache, wie so vieles in diesem Buch. Manches mag deshalb schnell auf die Nerven gehen, vieles ist aber durchaus lebensfroh und unterhaltend geschrieben. Es wird viel gespeist und gezecht, viel gefeiert und gelacht in diesen letzten drei Lebensjahren. Alles liest sich klar und leicht. Ein idealer Einstieg für Leser, die noch nichts von Loest kennen. Nur wenn es um Krankheit und Tod geht, wird es ernster. Seiner Lebensgefährtin Linde Rotta, die ein bemerkenswertes Nachwort zum Buch schrieb, gab er die Anweisung, dies alles nach seinem Tod zu publizieren. Nur wenige Stellen tragen melancholische Züge. Insofern ist der Titel „Gelindes Grausen“ fast irreführend gewählt. Zwar schreibt er, dass das Alter beziehungsweise das Alt-werden einem Massaker gleicht, gemeint aber war, Alt-werden und gleichzeitig krank zu sein. Und nur in dieser Kombination ist jeglicher Widerstand zwecklos. Davor grauste ihm. Das typographisch ansprechend gestaltete Buch darf als Vermächtnis verstanden werden: Aufmerksam sein, kritisch bleiben!

Titelbild

Erich Loest: Gelindes Grausen. Tagebuch 2011–2013.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014.
336 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783954621965

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch