Niemanden gleichgültig gelassen

Zum Tod von Gabriel García Márquez

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

In seiner frühen Erzählung Los funerales de la Mamá Grande (Das Leichenbegängnis der Großen Mama) hat Gabriel García Márquez die pompöse Beisetzung einer legendären Matriarchin geschildert. Ihr Tod löst ein „nationales Beben“ aus. Nicht nur der Präsident der Republik sieht sich gezwungen, an dem zwei Tage währenden Leichenbegängnis in dem kleinen Ort Macondo teilzunehmen, und mit ihm seine Minister, die Erzbischöfe des Landes und alle anderen „Würdigen“. Auch der Papst, als er vom Tod der Frau erfährt, macht sich von Castelgandolfo aus auf den Weg nach Südamerika. „Niemand“, vermerkt der Erzähler, „stand diesem Tod gleichgültig gegenüber“. Für die als sagenhaft reich und einflussreich geltende Verstorbene aber, im Sarg „von der Wirklichkeit durch acht Kupferschrauben getrennt“, „erfüllte sich in jenen achtundvierzig ruhmreichen Stunden, in denen die Sinnbilder der Zeit“ ihrem Andenken huldigten, „aller Glanz“, von dem sie „in hitzeschweren Nachtwachen geträumt hatte“.

Mit dem Tod von Gabriel García Márquez mag es in mancher Hinsicht ironischerweise ähnlich sein. Weltweit hat er so viel Beachtung gefunden, wie es nur der Fall ist, wenn das Ableben eines bedeutenden Menschen weithin als ein großer Verlust wahrgenommen wird. Das gilt für Autoren häufiger als etwa für Politiker, aber auch für wenige Autoren nur so uneingeschränkt wie für den kolumbianischen Nobelpreisträger. Zwar hat García Márquez schon seit längerem kein Buch mehr geschrieben, das ihn auf der Höhe seiner hohen Kunst zeigte. Doch mit seinem Tod ist es endgültig, dass die einmalige Begabung, mit der er die Welt beeindruckt, ja bezaubert hat, erloschen ist. Zugleich scheint er jetzt, wo seine literarische Leistung feststeht, einen neuen Gipfel des Ruhms erreicht zu haben.

Gabriel García Márquez ist der Autor eines der großen Romane des 20. Jahrhunderts und sicherlich des größten der südamerikanischen Literatur. Cien años de soldedad (Hundert Jahre Einsamkeit), 1967 zuerst in Argentinien erschienen, 1970 auch in Deutschland, ist längst Literaturgeschichte. In alle großen Sprachen übersetzt, hat dieses Buch ein Millionenpublikum gefunden – mehr als jeder andere südamerikanische Roman, mehr auch, als es den meisten bedeutenden literarischen Werken je vergönnt ist. In seinem Fall stimmen das Urteil der Leser und das der Kritiker überein. An seinem literarischen Rang besteht kein Zweifel, an seiner kulturellen Bedeutung ebenso wenig.

Der erste Eindruck, den der Roman auf einen Leser macht, ist der einer fast atemlosen Spannung. Nicht nur im ersten, in jedem Satz ist er in medias res. Umstandslos erzählt der Autor eine Geschichte nach der anderen, ohne den Faden zu verlieren, den der Leser erst aufnehmen muss. Am Ende jedes Kapitels scheint er ihn zu haben – und muss ihn am Anfang des nächsten oft wieder suchen. Der Autor reißt ihn mit seinem immer stärker anschwellenden Erzählstrom mit. So ausschweifend er auch zu fabulieren scheint, von einem Ereignis zum anderen, von einer zur anderen Person wechselnd, gibt es doch keine Seite in diesem Roman, die langweilig wäre – und kaum einen Satz. Die pragmatische und stilistische Dichte ist unerhört: Fast jeder Satz wartet mit einer neuen Wendung auf, treibt die Handlung voran, führt eine neue Figur ein oder bietet eine überraschende, sich sofort einprägende Formulierung. Immer wieder laufen die einzelnen Geschichten auf Pointen zu, die meist markante Aussprüche einzelner Figuren sind. Sie sind nicht das einzige Merkmal einer kunstvollen Komposition. Motive werden eingeführt – so gleich im ersten Satz das Erschießungskommando für den Obert Aureliano Buendía –, die erst nach hundert Seiten oder mehr wieder aufgriffen werden. Die Zahl als Kompositionsprinzip spielt, nicht nur im Titel, eine unübersehbare Rolle. Das Buch hat zwanzig Kapitel – wobei der erste Satz des zehnten auf den ersten des ersten bezogen ist und so die Zweiteilung deutlich macht.

Der handlungs- und figurenreiche Roman, der mit den hartnäckig wiederkehrenden Personennamen manchen Leser verwirrt, hat seinen Mittelpunkt in dem fiktiven karibischen Ort Macondo. Er erzählt von dessen Gründung ebenso wie von dessen Aufstieg und Niedergang, der Bürgerkrieg und Ausbeutung durch ein nordamerikanisches Unternehmen einschließt. Das alles wird vorgetragen aus der Perspektive der weitverzweigten Familie Buendía mit ihrem Glück und mehr noch ihrem Unglück, das fast immer mit unglücklicher Liebe untrennbar verknüpft ist. Am Ende erfährt der Leser, das ihr Verhängnis in einem Buch festgehalten ist, das der Zigeuner Melchíades, der Freund des Gründungsvaters Jose Arcadio Buendía, verschlüsselt auf Sanskrit geschrieben hat: ein Buch im Buch.  

Der Roman hat zu unterschiedlichen Interpretationen Anlass gegeben: als Geschichte einer Familie, einer Region, einer Nation, eines Kontinents. Die Einsamkeit, von der immer wieder die Rede ist, kann als die unaufhebbare Existenzbedingung des Menschen verstanden werden, aber auch als die mehr politische und kulturelle als geografische Isolation Südamerikas in der Welt. Schnell hat man sich darauf geeinigt, dass der Roman einen neuen Stil geschaffen habe: den Magischen Realismus. Noch in der Würdigung durch das Stockholmer Nobelpreiskomitee ist die Rede davon, dass sich in García Márquez’ Werk „das Phantastische und das Realistische vereinen“. Die Formel ist seither viel bemüht worden, oft ungenau, oft ohne dass etwa berücksichtigt worden ist, dass der Autor magisches und realistisch-rationales Denken nicht unbedingt miteinander vermischt, vielmehr beides immer wieder ausstellt und dabei selbst ein durchaus kühl kalkulierender Künstler ist, ähnlich wie sein geheimnisvoller schreibender Zigeuner Melchíades. Nicht selten ist der Ausdruck Magischer Realismus auch einfach zum Synonym für das geworden, was Alejo Carpentier die „wunderbare Wirklichkeit“ Lateinamerikas genannt hat, deren Mythos der Autor von Hundert Jahre Einsamkeit wesentlich geschaffen hat.

Aus Anlass seines Todes ist nun immer wieder zu lesen, dass Gabriel García Márquez überraschend und gewissermaßen auf einen Schlag Südamerika in die Weltliteratur eingeführt habe. Tatsächlich haben das jedoch vor ihm schon Gabriela Mistral und Pablo Neruda, die beiden chilenischen, und Miguel Ángel Asturias, der guatemaltekische Literaturnobelpreisträger, getan, sicher auch Jorge Luis Borges. Asturias wurde übrigens in eben dem Jahr in Stockholm geehrt, in dem Hundert Jahre Einsamkeit erschien. Vor allem Neruda aber hat bereits zwei Jahrzehnte vor García Márquez die Welt, die westliche und die östliche, in seinem viel beachteten Canto general (Der große Gesang) mit den Besonderheiten der Geschichte Südamerikas vertraut gemacht, nur eben lyrisch, nicht episch und auch nicht so „kulinarisch“, wie es García Márquez, halb bewundernd, halb tadelnd, bescheinigt worden ist.

Der vielberedete Boom südamerikanischer Literatur, der mit Hundert Jahre Einsamkeit einsetzte, kam nicht aus dem Nichts. Wäre die literarische Welt auf einen Autor wie García Márquez – oder den anfangs ähnlich vielversprechenden Mario Vargas Llosa – nicht vorbereitet gewesen, hätte er kaum den Erfolg haben können, den er hatte. Aber es brauchte sicher ein großes, wunderbar lesbares und wirkungsvolles Werk, um den Boom auszulösen – und eines, das bei aller exotischen Fremdheit literarisch in vielem doch bekannt genug erschien. Wer Hundert Jahre Einsamkeit zum ersten Mal las und dabei der zahlreichen intertexuellen Verweise gewahr wurde, konnte sich durchaus an einige der großen Vorbilder des Autors erinnert fühlen: außer an Jorge Luis Borges auch an William Faulkner und Ernest Hemingway und, nicht zuletzt, an Franz Kafka.

García Márquez hat nach Hundert Jahre Einsamkeit weitere Romane geschrieben, von denen einer wohl sogar noch häufiger verkauft wurde: die Alters-Liebesgeschichte El amor en los tiempos del cólera (Die Liebe in den Zeiten der Cholera). Er hat Romane veröffentlicht, die nicht nur wegen des vorgegangenen großen viel Aufmerksamkeit fanden, vor allem El otoño del patriarca (Der Herbst des Patriarchen), auch El general en su laberinto (Der General in seinem Labyrinth) und eine buchlange Erzählung – nach der frühen El coronel no tiene quien le escriba (Der General hat niemand, der ihm schreibt) –: Crónica de una muerte anunciada (Chronik eines angekündigten Todes), die auch verfilmt worden ist. Jedem anderen Autor als García Márquez hätten diese Werke literarisch zur Ehre gereicht, ebenso wie seine mitunter glänzenden journalistischen Arbeiten. Aber an seinen großen Roman, den er mit 40 Jahren veröffentlichte, reichen sie letztlich nicht heran.

Das hat seinem Ansehen nicht geschadet. Denn García Márquez ist mit seinem großen Roman nicht nur als Autor berühmt geworden. Er wurde auch sogleich eine kulturelle Institution: der vernehmlichste Sprecher Südamerikas, der nicht bloß den Kolumbianern neues Selbstbewusstsein gegeben und ihre Identität gestaltet hat. Das Bild Südamerikas nicht zuletzt in Europa hat er wie kein anderer geprägt, ironischerweise durch Fiktionen. Dabei drängte es ihn, wenn nicht in die Politik, so doch zu politischen Zeichen, zu Protesten etwa gegen atomare Rüstung oder politische Unterdrückung. Nach dem Erfolg von Hundert Jahre Einsamkeit erklärte er, erst wieder ein Buch zu veröffentlichen, wenn der chilenische Diktator Augusto Pinochet gestürzt sei – eine weltfremde, in ihrem Idealismus fast naive Haltung, die er zur Freude seiner Leser nicht durchhielt.

Schon früh wurde der bekennende Sozialist Freund und Anhänger Fidel Castros. Er blieb dessen bekanntester literarischer Gefolgsmann – im Gegensatz zu anderen südamerikanischen Intellektuellen und Autoren, die Castros Regime früher oder später kritisch gegenüber standen, etwa Pablo Neruda oder dessen Landsmann Jorge Edwards. An García Màrquez’ Zerwürfnis mit Mario Vargas Llosa, über das die Öffentlichkeit bis heute nicht ganz im Bilde ist, dürfte diese ideologische Treue zumindest großen Anteil gehabt haben. Vargas Llosa jedenfalls nannte seinen alten Freund öffentlich einen „Höfling Castros“. Ansonsten wird García Márquez` Einfluss auf Castro unterschiedlich beurteilt.

Am Gründonnerstag ist Gabriel García Márquez, 87 Jahre alt, in Mexiko-City gestorben, wo er seit längerem lebte, dement, wie es heißt, nachdem er eine Krebserkrankung überstanden hatte. Wie sehr er in der literarischen Öffentlichkeit mit seinem großen Roman verbunden ist, belegt der gelegentlich zu lesende Hinweis, er sei am gleichen Tag gestorben wie Ursula Buendía, die weibliche Hauptfigur seines Romans, die Frau des Gründers von Macondo, José Arcadio Buendía. Auch das ist magischer Realismus. In seinem Roman aber leiden nicht nur die Lebenden unter der Einsamkeit, auch die Toten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz