Der Kindheit letzter Sommer

Von Tagen zwischen Stillstand und Aufbruch im DDR-Ferienlager „Schneckenmühle“ erzählt der gleichnamige Roman des Berliner Autors Jochen Schmidt

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Scolymastra joubini – das älteste Lebewesen der Welt. Es ist ein Schwamm auf dem Meeresgrund der Antarktis. Seit annähernd zehn Jahrtausenden lebt es dort, gilt damit quasi als Methusalem des Ozeans, als Symbol ewigen Alterns, Sinnbild für ein langes Leben. Das Geheimnis dieses Riesenschwamms? Er wächst redensartlich im Zeitlupentempo: So misst er in seinem stattlichen Alter von 10000 Jahren gerade mal zwei Meter, sein Wachstum verläuft also geradezu unmerklich – um kaum mehr als 0,2 Millimeter pro Jahr. Seine Entwicklung kommt damit beinahe einem Stillstand der Zeit gleich. Einem Stillstand, ja Zögern, Innehalten im Leben, das sich wohl auch der 14-jährige Jens aus Jochen Schmidts jüngstem Roman „Schneckenmühle“ wünscht, während er in kindlicher Abgeklärtheit über das Alter des Meereswesens und das Älterwerden an sich sinniert.

Denn es ist der Sommer 1989 und das letzte Mal, dass Jens in das DDR-Ferienlager, dem der Roman seinen Namen verdankt, mitfahren darf. Das letzte Mal darf er hier Kind sein und doch wird Jens dieses Mal zu den Ältesten gehören: „[I]ch bin in der größten Gruppe, das Ziel einer Entwicklung ist erreicht“. Das Ziel jahrelanger Kindheitsträume: Vor Rangelei, Schubsen, Armverdrehen ist er gefeit, stattdessen zählt Jens nun selbst zu den Starken, die Jüngeren blicken zu ihm auf, nur den Gruppenleitern gilt es sich zu beugen – ein Zustand, der ewig dauern dürfte. Einfach die Zeit anhalten. Mit den Jungs im Holzbungalow abhängen, Tischtennis und Skat spielen, durch den Wald stolpern und in der Nacht wandern, heimlich die Mädchen im Waschraum inspizieren. Überhaupt gibt es noch so Vieles, das es noch zu lernen gilt: Das Tanzen zum Beispiel. Oder das lässige Kartenmischen.

Doch Jens wird erwachsen. Und auch das Land um ihn herum befindet sich im Aufbruch. Die vorgebliche Zeitlosigkeit, in der sich der Mikrokosmos der Ferienlagerwelt entfaltet, ist nur Illusion: Jens entdeckt für sich die Liebe in der Pionier-Anoraktragenden Sächsin Peggy und wendet, wenn auch unbemerkt, seiner Kindheit allmählich den Rücken zu. Und auch die Aufbruchstimmung der späten DDR geht nicht spurlos am Ferienlageralltag vorüber: Nach und nach stehlen sich einzelne Gruppenleiter über Nacht aus „Schneckenmühle“ fort. Jens vermag diese Vorgänge kaum richtig einzuordnen: „Immer wenn wir Alkohol getrunken haben, verschwindet ein Leiter“, stellt er verwundert fest. Dass sie möglicherweise nicht nur dem Ferienlager, sondern vielleicht sogar ihrem sozialdemokratischen Heimatland entflohen sind, über Ungarn – wie es Jens’ Zimmergenosse sagt – „rüber gemacht“ haben, liegt dabei außerhalb seines Vorstellungsbereichs.

Dem Roman aufgrund der Motive des Endens der Kindheit und des Auflösens der bisherigen DDR-Lebenswelt aber mögliche Spuren des Ostalgischen zu unterstellen, ist weit verfehlt. Klug weiß der Berliner Journalist und Schriftsteller Schmidt, der nach „Müller haut uns raus“ aus dem Jahr 2002 mit „Schneckenmühle“ nun seinen zweiten Roman veröffentlichte, dies zu vereiteln. Deshalb zum Beispiel, weil er seinen Protagonisten aus der naiv-unbedarften Kindheitsperspektive erzählen lässt. Vor allem aber auch, weil es der Ich-Erzähler hinter seiner Unschuldsmiene eigentlich faustdick hinter den Ohren hat! Denn es fällt schwer zu glauben, dass sein Blick auf die Zeit von 1989 tatsächlich der Sicht eines 14 Jahre alten Jugendlichen entspricht. Vielmehr kennzeichnet seine Erinnerungen die Arglosigkeit eines deutlich jüngeren, vielleicht acht- oder zehnjährigen Kindes. Gleichzeitig sind seine Gedanken aber so clever kontextuiert und arrangiert, dass zweifelsfrei auch das politisch-aufgeklärte Wissen eines Erwachsenen in die Erzählung mit hineinspielen muss. Die vermeintliche Zufälligkeit, die wohl den Charakter dieser assoziativen Erzählweise ausmachen soll – die sich in den bisherigen Texten Schmidts ja auch durchaus bewährt hat und von der Kritik gemeinhin sehr geschätzt wird –, trägt manchmal allerdings etwas Albernes in sich beziehungsweise bewegt sich, wie es Volker Weidermann – wenn auch durchaus anerkennend formuliert, „am Rande von totalem Quatsch“. Stellenweise mag ihm der Balanceakt gelingen, dann verschränken sich kindliche Weltsicht und das Wissen um die DDR und die deutsch-deutsche Geschichte so gekonnt, dass eine ironische, brisante Komik entsteht.

Manchmal kippt es dann aber doch ins Kalauerhafte, in einen Witz, der nicht so recht gelingen will, teils gar etwas abgeschmackt wirkt. Denn genau genommen ist es ja nicht ganz neu, aus kindlicher Perspektive die politischen Strukturen der ehemaligen DDR zu entlarven, ja sie förmlich ad absurdum zu führen. Schon Jakob Heins literarisches Debüt „Mein erstes T-Shirt“ oder auch Michael Tetzlaffs „Ostblöckchen“ sind durch eine solche Erzähl- und Erinnerungsweise gekennzeichnet, viel deutlicher (und überzeugender) noch Claudia Ruschs „Meine freie deutsche Jugend“. In ihren Erinnerungen an eine Dissidentenkindheit im direkten Kreis um Robert Havemann ist es vor allem der Blickwinkel des Kindes und der geradezu plapperhaft-naive Ton von Ich-Erzählerin Claudia, der politisch höchst aufgeladene Situationen zum Kuriosum werden lässt und so etwa die Machenschaften der Staatssicherheit subtil und doch eindringlich offenlegt, ohne dabei auf Effekthascherei aus zu sein. Wenn Schmidts Erzähler Jens aber beispielsweise während eines Kinobesuchs zum Film „Der geheimnisvolle Buddha“ über die Vorzüge des Karate oder Kung-Fu nachdenkt und schließlich mutmaßt „Das soll aber verboten sein bei uns, weil es gefährlich wäre, wenn die Bevölkerung sich ohne Waffen wehren könnte“, wirkt das leider im Vergleich eher blass.

Nichtsdestotrotz gibt es aber auch Positives in Schmidts jüngstem Werk hervorzuheben: Die Art und Weise etwa, wie Szenen des Jugendlageralltags zum Leben erweckt werden, die Detailfülle und Beobachtungsfreude des Ich-Erzählers und sein Talent, sie so anschaulich in Worte zu fassen. Und auch einen gewissen Charme, der tatsächlich zum Schmunzeln verleitet, muss man dem Roman zweifelsohne zugestehen – gerade in jenen Szenen, in denen man der Gefühlswelt des Erzählers ganz nah ist. Dann zum Beispiel, wenn Jens zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich tanzt: „Mein Körper ist ganz steif, ich fühle mich wie ein Pflaumenmännchen. Soll ich erst mal im Rhythmus hüpfen? Es ist so eng, daß man sofort Ellbogen in den Rücken bekommt. […] Der Himmel, die Sterne, ob Oma Rakete mich jetzt sieht? Als das Lied zu Ende ist, warte ich ungeduldig auf das nächste, die Pause stört, man möchte gleich weitermachen, damit man es nicht wieder verlernt.“ Als er schließlich merkt, was da gerade mit ihm passiert, stellt Jens zufrieden fest: „Ich kann es kaum glauben, Mischen, Käuzchenruf, Fliegenfangen und jetzt auch noch Tanzen, ich habe in so kurzer Zeit so viel gelernt, wie noch nie im Leben.“

Und so steht am Ende des Romans nicht also das Zeitanhalten und Innehalten im Leben, das Festhalten am Gegenwärtigen, sondern gewissermaßen die Entwicklung, die Veränderung und – auf Handlungsebene – schließlich sogar ein Bruch. Früher als erwartet holen die Eltern Jens aus „Schneckenmühle“ ab, durchbrechen den magischen Stillstand (der Welt des Ferienlagers), indem sie selbst aufbrechen: Richtung ungarische Grenze nämlich, so steht zu vermuten. Der Weg in den Westen. Auch wenn Jens selbst das in seinem Taumel noch nicht begreift: „Meine Eltern sind noch angespannter als sonst im Auto […]. Sie wollen mir später etwas Wichtiges erklären, wenn wir eine Rast machen. Ob sie sich doch scheiden lassen?“

Vielleicht lässt sich vor diesem Hintergrund rückblickend auch die „Langsame Runde“, die Schmidts Roman einen Untertitel verleiht, am ehesten so erklären: Einmal noch in aller Ruhe den letzten Sommer erleben – den letzten Sommer der Kindheit, den letzten Sommer der DDR. Denn Tempo nimmt das Leben – das lehrt nicht zuletzt die Geschichte selbst – danach von ganz allein auf.

Titelbild

Jochen Schmidt: Schneckenmühle. Langsame Runde.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
220 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783406646980

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