Der unerfüllbare Wunsch nach einem etwas besseren Leben

Über Ville Tietäväinens Graphic Novel „Unsichtbare Hände“

Von Cédric PietteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cédric Piette

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Graphic Novel „Unsichtbare Hände“ des finnischen Autors und Illustrators Ville Tietäväinen erzählt die fiktive Geschichte eines marokkanischen Immigranten, die sich dergestalt tagtäglich ereignet. Tietäväinen recherchierte für diese Graphic Novel, an der er fünf Jahre lang arbeitete, unter anderem bei Grenzbeamten, Flüchtlingen, Schwarzarbeitern und Menschenhändlern in Spanien und Marokko.

Der Marokkaner Rashid verdient sein karges Auskommen, mit dem er versucht, seine Eltern, seine Ehefrau Amina und seine kleine Tochter Amal zu ernähren, als Schneidergehilfe in der Medina. Als jedoch seine Tochter schlimmer als sonst darbt, seine Mutter erkrankt und er überdies noch seine Anstellung in der Schneiderei verliert, wird Rashid – wie auch sein Freund Nadim und der befreundete Teemeister Wafiq – für die Idee empfänglich sich nach Europa aufzumachen, um dort ein nicht mehr ganz so schlechtes Leben zu führen. Die Drei lassen sich von einer Schleuserbande ködern und wagen sodann eine nächtliche Überfahrt über die Straße von Gibraltar in einem Schlauchboot, welches allerdings von einem Patrouillenboot und einem Hubschrauber der europäischen Grenzsicherung abgedrängt wird, sodass Wafiq im Meer verschwindet und Nadim sich an der spanischen Küste eine tödliche Kopfverletzung zuzieht. Dadurch muss Rashid seine Odyssee durch Spanien gänzlich ohne Beistand antreten. Als „Schuldsklave“ der Schlepper bleibt ihm angesichts seiner in Marokko gebliebenen Angehörigen nichts übrig, als sich – wie Tausende anderer illegaler Einwanderer – auf den riesigen Treibhausplantagen in Almeria unter grauenhaft unmenschlichen Arbeits- und Wohnverhältnissen zu verdingen.

Rashid gelingt es jedoch nach mehr als einem Jahr seinen Weg von den Gewächshausfeldern aus fortzusetzen. Daraufhin versucht er, als nicht geduldeter Straßenverkäufer, Drogenhändler und schließlich als Straßenkünstler zu überleben, stets mit der vagen Hoffnung, doch noch seiner Familie Geld schicken zu können. Einem Hiob gleich, dem alles genommen und nichts wiedergegeben wird und der dem Leben das Wenige an Würde und Menschlichkeit, das ihm angedeiht, teuer abtrotzen muss, überantwortet sich Rashid am Ende der Obhut Gottes – beziehungsweise in diesem Fall Allahs – und stürzt.

Eindringlich und gefühlvoll erzählt Tietäväinen diese Geschichte, mit teils dunklen, aber durchgängig farbarmen Panels, die bereits ohne deren Inhalt bedrückend wirken. Dem Autor und Illustrator gelingt es in dieser Graphic Novel, ein detailreiches Gesamtbild der schrecklichen Lebenswirklichkeit papierloser Zuwanderer zu schaffen, das im Blick auf beide Seiten deutlich zeigt, wer sowohl in Europa als auch in Afrika von der momentan bestehenden Situation profitiert. Darüber hinaus wird „Unsichtbare Hände“ durch ein Vorwort des Sozialanthropologen Marko Juntunen ergänzt. Dieses liefert einen kurzen geschichtlichen Abriss, der die Gegebenheiten einer Überfahrt der Straße von Gibraltar und die Unterschiede zum Inhalt hat, die die Generationen bezüglich der Handhabung europäischer Grenzbestimmungen miterlebten. Darüber hinaus gibt es eine Auflistung von medialen Ausdrücken, die in der Berichterstattung zum Thema Migration benutzt werden. Tietäväinen bindet schon zu Beginn den westlichen Leser in sein Werk ein, indem er von der ehemaligen Fähre „Viking 5“ berichtet, die einst zwischen Schweden und Finnland kreuzte und heutzutage unter dem Namen „Gibraltar“ („Boughaz“) zwischen Tanger (Marokko) und Algeciras (Spanien) verkehrt.

Alles in allem verwundert es keineswegs, dass „Unsichtbare Hände“ in Finnland eine Diskussion über die europäische Einwanderungspolitik ausgelöst hat. Unabhängig davon unterstreicht die Lektüre dieser Graphic Novel auch für deutsche Leser, wie dringend eine Änderung des fatalen Umgangs mit afrikanischen Flüchtlingen an der Südgrenze Europas angemahnt werden muss.

Titelbild

Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände.
Herausgegeben von Johann Ulrich.
avant-verlag, Berlin 2014.
216 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783939080961

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