Neu-Vermessen von Nähe

Zu Sabine Scholls Generationenroman „Wir sind die Früchte des Zorns“

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Kill your mothers“. Der Vorschlag eines Arztes, dem die Ich-Erzählerin dieses Buches, fast schon am Ende ihrer Kräfte, ihre Geschichte(n) vorträgt, weist ihr den Weg, den sie dann tatsächlich einschlägt, um wieder gesund zu werden, den Zorn zu bändigen und Hoffnung zu schöpfen: Sie erzählt, sie entwirft, sie erfindet eine Serie von Familienporträts, in deren Mittelpunkt die Behauptung ‚wir sind glücklich, alles geht gut’ permanent überprüft und Stück für Stück als aufgeblasenes Lügengebäude entlarvt wird.

Dabei hält sich die Erzählerin so weit wie nur möglich zurück; jeder auktoriale Darstellungsmodus, der zu Klartextbotschaften (ver)führen könnte, liegt ihr fern. Die Serie ihrer Familien-, besser gesagt: Frauenporträts reiht sich damit recht harmonisch ein in den Kreis der Generationenromane, die in den letzten Jahren immer wieder die Aufmerksamkeit der Literaturkritik auf sich gezogen haben. Dennoch behauptet das Buch in diesem Kreis eine durchaus eigenständige Position, indem es die Arbeit und die Träume der Frauen, der Mütter, ins Zentrum schiebt – und den Männern, die zumeist ohnehin frühzeitig aus dem Blickfeld der Frauen verschwinden, nur bescheidene Nebenrollen überlässt.

Der Roman führt zunächst zurück an den Beginn des 20. Jahrhunderts: einerseits in die vornehme Welt der Schwiegermutter Odette, die in Paris aufgewachsen ist und sich später (wenigstens in ihrem Selbstverständnis) zu einer Mittlerin zwischen Frankreich und Österreich aufschwingt; andererseits in die engbegrenzte Welt der Großmütter, Hanna (Großmutter I) und Martha (Großmutter II), die alles andere als die Butterseiten des Lebens kennengelernt haben. Marthas älteste Tochter, Erika, die Mutter der Erzählerin, wird schließlich vom Schicksal am härtesten geschlagen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Ich-Erzählerin aus dieser Ahnenreihe ausbrechen will, indem sie versucht, möglichst alles zu löschen, was sie mit ihrer Herkunft verbindet. Als sie aber selbst Mutter wird, wie alle anderen Frauen der Familie, noch dazu eine alleinerziehende Mutter, muss sie registrieren: „Nun ist der Abstand zwischen ihnen und mir nicht mehr so groß. Die Natur hat gesiegt.“ Sich damit abzufinden, ist freilich ihre Sache nicht.

„Seit Lilas Geburt stehle ich mich fort, kauere auf Parkbänken, beschriebene Seiten auf den Knien, bis es kühl wird, zu regnen beginnt. Habe ich mein Pensum nicht erledigt, ziehe ich weiter, suche nach Cafés ohne Musik, durchquere die Stadt […]. Ich schiebe meine Arbeit zwischen die Pflichten. […] Was ich unterwegs in der Stadt auf Papier kritzle, tippe ich abends in den Computer.“

Aus eben diesem Sich-nicht-Abfinden mit dem vorgezeichneten Leben bezieht der Roman seine Spannung. Die Erzählerin will „nichts mehr davon hören, nicht mehr daran erinnert werden, woher ich kam. Ich will neu sein. Unbeschrieben.“ Was die Frauen der Familie miteinander verbunden hat, namentlich die Kinder und die Textilien, über anderes können sie kaum einmal miteinander reden, wird daher konsequent mehr und mehr in den Hintergrund geschoben, während gleichzeitig die Bedeutung der Literatur für die Erzählerin in den Vordergrund rückt: Lektüre und – „Schreiben hilft“.

Dass die Ich-Erzählerin mit der Autorin etliches gemein hat, ist nicht zu übersehen; zumal sie einmal sogar en passant ihren Namen verrät: Sabine. Aber sie belässt es keineswegs dabei, nur genau hinzuschauen und mit einer Detailbesessenheit sondergleichen zu beschreiben, was (einmal gewesen) ist. Sie nutzt auch die Möglichkeiten des fiktionalen Schreibens und des hartnäckigen Reflektierens über die diversen Perspektiven des Erzählens – vorwiegend lakonisch – in souveräner Manier. Dem jüngsten Buch von Sabine Scholl gebührt deshalb ein Logenplatz in der Geschichte des Generationenromans.

Titelbild

Sabine Scholl: Wir sind die Früchte des Zorns. Roman.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2013.
289 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783905951219

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