Kein „Fall für die Strickjacke“

Hans-Ulrich Treichels Roman „Frühe Störung“

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein allzu leichter Fall für seinen Analytiker will er nicht sein: Franz – gesetzlich versicherter „Mutterkranker“. Ein allzu schwerer auch nicht, versteht sich. Kein „Fall für die Strickjacke“ jedenfalls, die der Analytiker mit einem Mal zu tragen beliebt, wenn er ihn in seiner Praxis empfängt, um – wie es im Buch heißt – aus dem neurotischen Mutterleiden ein ganz gewöhnliches Mutterleiden zu machen. Beim Lesen konnte er sich noch nie so recht konzentrieren, mit den Frauen klappt es auch nicht. Und hin und wieder zieht es ihn in die Ferne, in die „Mutterferne“. Das Dilemma: Mutterferne ist zugleich das, was er am meisten fürchtet. In seinen Reiseplänen stellt sich das dann als „größtmögliche Ferne von der Mutter bei geringstmöglicher Abwesenheit von ihr“ dar. Konkret: Kalkutta in drei Tagen. So gesehen sind seine gelegentlichen Aufträge für das Verfassen von Reiseführern die perfekte Kompensation seiner reichlich verkorksten Mutterbindung. Aber selbst wenn er zuhaus bleibt, hört er es: „Mutter Mutter Mutter. Es ist meine eigene Stimme. Aber sie spricht gegen meinen Willen.“ Und an dem Tag, an dem er seine Analyse beendet, ist sie so präsent wie nie zuvor. Kurz: Ein emotional wie in jeder anderen Hinsicht mittelmäßig begabter Held (wie man ihn in auch in den Romanen Genazinos antreffen kann) findet sich verstrickt in eine ganz und gar nicht mittelmäßige Tragik. In eine Tragik, die – bei allem pointenhaft-komischen, nichtsdestotrotz beredten Selbstmitleid – sich selbst nicht versteht. Trotz fortwährender Selbstanalyse verstrickt er sich nur immer tiefer in Gefühlen von Schuld und Scham (Themen, die Treichel nicht zum ersten Mal verarbeitet, denkt man etwa an die Erzählung „Der Verlorene“).

Herzstück des Romans sind die wiederkehrenden Erinnerungen an den täglichen Alptraum aus Kindertagen, wenn er in den Mittagsstunden im elterlichen Bett, dicht neben dem „atmenden Leib der Mutter“ auszuharren hatte, „die zudem noch, während sie einschlief, immer näher an mich heranrückte und mich mit ihrem Bauch oder ihren Schenkeln berührte.“ Auf beeindruckende Weise wird in diesen Beschreibungen des kindlichen Erlebens dieser Situation, die einer grotesken Komik nicht entbehren und für die allein die Lektüre des Buches unbedingt lohnt, zugleich das volle Ausmaß des Muttertraumas und der Tragödie eines Lebens offenbar. Mit den zur Mittagszeit zugezogenen dunkelroten Vorhängen verwandelt sich das Zimmer in die Mutterhölle, in eine „nach mütterlichem Schweiß und Atem riechende dunstig-rötliche Höhle.“ Der Junge, so erinnert sich Franz, verwandelt sich in diesen Stunden in einen Geologen und Reisenden, der „das poröse Gestein, in das sich das Gesicht der Mutter verwandelte, wie eine unbekannte, von Kratern, Mulden, Trichtern, haarigen Hügeln und kleinen schweißfeuchten Bächen durchzogene Landschaft betrachtete.“

Wovon der Autor im lakonischen, oft scheinbar gefälligen Ton erzählt, das ist die quälende Leerstelle eines nicht gelebten Lebens. Denn: gäbe es sie nicht, diese durch den Tod der Mutter erst recht nicht zu heilende Mutterkrankheit, wovon um Gottes willen ließe sich (mit sich selbst) sprechen?

Am Ende des Romans, für einen ganz kurzen Moment, scheint es, als könnte es Franz am Ende doch noch gelingen, sich von der Mutter zu befreien. Überraschend trifft er die ganz unmütterliche Andrea wieder, mit der ihn eine vergangene, aber wohltemperiert-leidenschaftliche Affäre verbindet, die er nur allzu gern aufleben ließe. Es ereignet sich so etwas wie eine Wiederholung der mittäglichen Unruhestunden mit verkehrten Rollen. Doch einer der letzten Sätze, die Andrea (im Spaß) zu ihm sagen wird, lautet: „Gib Mutti das Taschentuch, ich entsorge es.“ Folgerichtig steht da am Ende Franzens überraschend unmittelmäßige Selbsteinsicht: „Ich bin ein altes Kind, das sich vor seiner toten Mutter fürchtet.“ Da kommt einem der alte Scherz in den Sinn: „And now, after 20 years of Psychoanalysis: how do you feel?“ – „A little better.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
189 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518424223

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