Die ‚Überlebensbeschreibungen‘ des Walter Grab

Jan-Christoph Hauschilds „O Tennenbaum“

Von Lisa EggertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Eggert

Auch Weltgeschichte, wie alle Geschichten, will erzählt werden. Das dokumentarische Drama „O Tennenbaum“ von Jan-Christoph Hauschild versucht nun die Historie aus ihrem natürlichen Habitat, der Erzählung, ins Theater und damit in eine andere Gattung zu überführen und hebt sich dadurch von den anderen Finalisten ab.

Auf der Grundlage von Interviews mit dem 1919 in Wien geborenen israelischen Historiker Walter Grab wird hier dessen Lebensgeschichte auf die Bühne gebracht. Der Verbindung von privater und Welt-Geschichte, die, dargestellt aus Perspektive des Holocaust-Überlebenden, per se gleichermaßen ergreifend wie beeindruckend ist, wird durch die abstrakte Betrachtung des Historikers eine weitere Ebene hinzugefügt. Der Historiker selbst berichtet auch nur mittelbar, Hauschild lässt Alex Tennenbaum die Geschichte(n) des Walter Grab erzählen. Berichtet wird allerdings auch von Ereignissen, die sich erst nach dem Tod der realen Person Walter Grab zugetragen haben, und nun von Tennenbaum mit der von Hauschild (re)konstruierten Stimme des israelischen Intellektuellen kommentiert werden. Zwar ist dies eine legitime literarische Technik und ein spannendes Spiel mit der Gattung des dokumentarischen Dramas, wirkt allerdings zum Ende hin leicht aufgesetzt und gewollt.

Die Stärke des Textes liegt jedoch eindeutig in den vielschichtigen Schilderungen verschiedener Episoden aus dem Leben des Protagonisten gegenüber dem Ehepaar von Flemming, wobei der Eindruck des Interviews bzw. des interessierten Gesprächs erhalten bleibt. Ganz nebenbei reflektiert Tennenbaum wiederholt Zeitgeist und Gesellschaft. Immer wieder kommen auch Stimmen aus der Vergangenheit zu Wort und tragen so zum dokumentarischen Charakter des Stückes bei.

Die szenische Lesung legt den Schwerpunkt auf den berichtenden Charakter, den der Text zweifellos hat, der aber vielleicht zu Gunsten der Möglichkeiten des Theaters etwas weniger hätte forciert werden können. Davon abgesehen gibt es, dem Motto des Preises entsprechende, gute inszenatorische Einfälle, wie eine sich im Verlauf der Lesung aufbauende Grenze, die sowohl den Text als auch die Bühne immer wieder neu teilt und räumlich strukturiert.

Wenn Alex Tennenbaum am Ende sagt: „Falls ich mal meine Memoiren schreibe, werde ich sie nicht Lebensbeschreibungen nennen, ich werde sie Überlebensbeschreibungen nennen“, wird klar: Erzählt werden Geschichten der Grenzen. Grenzen zwischen Staaten, zwischen Menschen und zwischen Leben und Tod. Und jede dieser Grenzziehungen vermag das Individuum in ein neues Verhältnis zu seiner eigenen – auch historisch-biographischen – Identität und letztlich zu seiner Herkunft oder Heimat zu setzen.

Damit ist „O Tennenbaum“ mehr als ein bloßes Dokumentardrama, mehr als „Opa erzählt vom Krieg“. Es zeigt an verschiedenen Stationen eines außergewöhnlichen Lebens die Verflechtungen von politischer und privater Geschichte – und dass es genau diese Momente sind, die uns zu dem machen, was wir sind, und uns eine innere Heimat geben. Schade, dass die Darbietung der Komplexität dieses Stückes nicht noch mehr Rechnung getragen hat Zwar wurde der dokumentarische Charakter des Textes beibehalten, aber dabei in gewisser Hinsicht so sehr fokussiert, dass der Eindruck entstand, man wohne einer Wiederaufführung der Interviews bei. Dabei legt das Drama mehr Möglichkeiten an, sich der Figur des Alex Tennenbaum bzw. des Walter Grab zu nähern als die bloße Narration. Denn das Theater kann eben etwas, was die Prosa nicht kann: Es kann zeigen, wovon andere nur erzählen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen