Dichter und Henker

Ulrich Horstmann polemisiert in einem Essay gegen die literaturwissenschaftliche Dekonstruktion und die These vom „Tod des Autors“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wollen sehn. Ich bin ein bißchen gespannt, was wird, fast so, als wäre ich an dem Entstehen des Neuen gar nicht beteiligt. Und es ist ja auch etwas, das ‚über einen kommt‘“, beschreibt Gertrud Kolmar 1940 ihrer Schwester Hilde Wenzel ihre Arbeit an einer „künftigen Erzählung“.

Ulrich Horstmann dürfte das gefallen. Stellt der  Gießener Amerikanist doch in seinem qua Untertitel der Textsorte „Einwurf“ zugeordneten Essay „Schreibweise“ zahlreiche Zitate bekannter – und durchaus auch weniger bekannter SchriftstellerInnen – vornehmlich aus dem deutschen- und englischen Sprachraum – zusammen, um den „dämonischen Schaffensdrang“ im Innern von LiteratInnen zu belegen, den „noch kein postmoderner Theoretiker zu erklären unternommen“ habe.  Horstmanns Ziel ist es nun, den „Schriftstellern“ das, wie er schreibt, ihnen „entzogene Rederecht in eigener Sache“ wiederzugeben. Hierzu zitiert er sie ausführlich und lässt sie erklären, „wie Literatur entsteht“, „wie Literatur ankommt“ und „warum Literatur aushält“. Dabei kann allerdings keine Rede davon sein, dass poststrukturalistische Theorien die Absicht oder gar die Macht hätten, Schriftstellern und deren Kolleginnen das Wort zu entziehen – weder pro domo noch in sonst irgendeiner Hinsicht.

In seinem Essay unternimmt es Horstmann zu ermitteln, „warum Schriftsteller mehr von der Literatur verstehen als ihre akademischen Bevormunder“. Dass dem überhaupt so sei, unterstellt er nicht einfach, sondern  plausibilisiert es mittels einer heftigen Polemik gegen die „bis zur Verunglimpfung pervertierten Rezeptionen“ von „postmodernen Versuchen, die Gefälle zwischen Primär- und Sekundärliteratur einzuebnen, die Singularität und Unwiederholbarkeit des Autors zu leugnen“.

Wenig hilfreich zur Ergründung der Frage, wie berechtigt der Geltungsanspruch einer dekonstruktiven Lektüre ist oder sein kann – von Wahrheitsanspruch wird man ja in diesen Fällen schwerlich reden können – sind allerdings Horstmanns Psychologisierungen der „hirnrissigen Lektüren“ dekonstruktiver Interpretationen und Ansätze. Wenn er ihren VertreterInnen etwa unterstellt, sie litten an einer „explosiven Mischung von Machthunger, Minderwertigkeitskomplexen und (Schöpfungs-)Neid“. Validieren kann er seine Diagnose nicht. Dass die Ursache für die „blindwütig-destruktive Übersprungsreaktion“ der dekonstruktiven TheoretikerInnen in der „haushoch überlegene Gestalt der Kunst“ liege, reicht dafür nicht aus. Mit seinem Befund, dass sie „blind vor Neid und verzehrt von den eigenen Ressentiments rhetorisch den totalen Krieg erklären“ würden, rückt Horstmann sie rhetorisch gar in die Nähe des nationalsozialistischen Propagandaministers Joseph Goebbels. Wenn das mal keine Kriegserklärung ist. Selbst wenn all dies zuträfe, wäre mit derlei Verbalinvektiven allenfalls das Zustandekommen postmoderner Literaturinterpretationen und -analysen erklärt. Die Pathologien derjenigen, die sie verfassten, sind für die Geltungsansprüche der Interpretationen hingegen ganz ohne Belang.

Horstmanns Ingrimm richtet sich dabei gegen die These vom „Tode des Autors“, und dies ist in diesem Fall durchaus nicht ganz unberechtigt. Roland Barthes hatte die selbst schon seit Längerem nicht mehr ganz jugendfrische Wendung zu einer Zeit in die akademische Welt gesetzt, zu der andere den tausendjährigen Muff unter den Talaren lüfteten. Nicht nur dekonstruktiven, sondern auch literaturwissenschaftlichen Interpretationen schlechthin hält Horstmann entgegen, die „einzig erschöpfende Interpretation“ etwa eines Gedichts sei „seine Wiederholung und damit der Interpretationsverzicht“. Gerade so, als würde sich irgendjemand in der Literaturwissenschaft anmaßen, ein Werk erschöpfend zu interpretieren. Interpretationen dekonstruktiver Provenienz oder der Gender Studies etwa von Franz Kafkas Erzählung „Das Urteil“ stehen beispielsweise vielmehr in einem Reclam-Band höchst friedlich nebeneinander, ohne dass eine von ihnen beanspruchen würde, die einzig richtige Lesart zu bieten. Einen Gültigkeits- oder doch Plausibilitätsanspruch haben sie selbstverständlich dennoch alle. Er steht zur Diskussion und lässt sich argumentativ untermauern oder bezweifeln. Dabei verliert die eine Lesart nicht, was die andere an Plausibilität gewinnt. Denn ihre Gültigkeiten rechnen sich keineswegs einem Nullsummenspiel gemäß auf.

Nicht nur über die literaturwissenschaftliche Forschung, auch über deren universitäre Lehre fällt Horstmann ein vernichtendes Urteil. In einer „Disziplin wie der Literaturwissenschaft“ würden die Studierenden „darauf gedrillt“, „auf Knopfdruck paradigmakonformen Sinn zu generieren und ihn unter Prüfungsbedingungen fast beliebigen Texten abzuschöpfen“. Denn die Universität suggeriere „den Primat des abstrakten, deduktiven und Abrufbaren und zwinge den Nachwuchsschriftsteller mit diesem Literaturmodell in eine fatale Bewusstheit, Selbstbeobachtung und Selbstzensur“. Der „schöpferische Prozeß“ als „seltsam voraussetzungslosem Abenteuer“ der Literaturschaffenden werde auf diese Weise ge- wenn nicht zerstört.

„Welche Erholung, naiv und guten Gewissens zu schmökern, sich jargonfrei und ohne Schlüssel- oder Reizvokabeln, die einen schulgerecht verorten, über das Gelesene zu unterhalten und zu verständigen“, schwärmt Horstmann. Das mag schon sein, ist aber nicht die Aufgabe der Literaturwissenschaft. So belässt er es auch nicht bei diesem geradezu arkadischen Idyll der Lesenden, sondern  „propagiert und praktiziert“ in dem vorliegenden Band doch immerhin ein „literaturwissenschaftliches Zuhören“, um die „Primärerfahrung, das Insiderwissen der Schriftsteller“ zu erlauschen. Diesen inneren Besitz von LiteratInnen „jedweder Couleur“ gelte es „wiederzugewinnen und zu rehabilitieren“. Auch das der LohnschreiberInnen, der Groschenheft-AutorInnen, mag man da fragen. Ihnen scheint Horstmann – aus guten Gründen? – nicht zuzuhören. Jedenfalls zitiert er sie nicht, wie er dies so häufig und ausführlich bei renommierteren Namen der gehobenen Literatur macht.

Zuletzt wendet sich Horstmann gegen die tatsächlich sehr fragwürdigen Kurse in creative writing. Sie bauten eine „Welt aus Lug und Trug“ auf, klagt er, „in der Kunst keine Rarität, kein seltener Glücksfall mehr ist, sondern jede Woche mit schöner Regelmäßigkeit in Manuskriptform aus der Tasche gezogen werden kann und Künstler von der Stange als Dutzendware innerhalb der Regelstudienzeit den Abschluss machen.“ Ganz von der Hand zu weisen ist das wohl nicht. Andererseits sollte aber auch nicht vergessen werden, dass handwerkliche Fertigkeiten und Techniken in anderen Kunstformen, der Bildhauerei etwa oder der Malerei, durchaus gelehrt werden, ohne dass dies je ähnliche Kritik auf den Plan gerufen hätte.

Insgesamt bietet Horstmann viel Polemik, die durchaus unterhaltsam, ja amüsant sein kann. Doch lässt er sie immer wieder allzu sehr ins Kraut schießen, was dem zarten Pflänzchen der argumentativen Stringenz nicht immer gut tut. Etwas weniger davon wäre seinem Anliegen wohl dienlicher gewesen.

Titelbild

Ulrich Horstmann: Schreibweise. Warum Schriftsteller mehr von Literatur verstehen als ihre akademischen Bevormunder.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
164 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783826053719

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