Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2014

Von Geschichten und Geschichte

Von Peter EllenbruchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Ellenbruch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang letzten Monats konnte man sie wieder erleben: die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Das für viele wichtigste, auf jeden Fall aber das älteste Filmfestival der Rhein-Ruhr-Region feierte vom 1.-6. Mai 2014 seine 60. Ausgabe – bzw. es hätte sie standesgemäß feiern können, doch dazu später mehr.

Auch diese Festival-Runde war nach dem seit etlichen Jahren bewährten Format aufgebaut, das verschiedene Wettbewerbe mit internationalen und nationalen Produktionen in den Mittelpunkt stellt, zusätzlich Themenprogramme sowie Regisseurinnen- und Regisseurportraits bereithält. So durften die Festivalbesucher*innen auch in diesem Jahr wieder viele Kurzfilme mit verschiedensten Darstellungs- und Erzählweisen aus allen Erdteilen begutachten und sich einen Eindruck davon verschaffen, wie es um die derzeitige Lage von Kurzfilmregisseurinnen/-regisseuren steht und welche Tendenzen sich im künstlerischen Kurzfilm ausmachen lassen (und „künstlerisch“ ist dabei nicht nur im traditionell bundesdeutschen Verständnis von „Filmkunst“ zu verstehen, sondern auch im Sinne einer Öffnung zur bildenden Kunst/Videokunst hin – ganz nach dem aktuellen Selbstverständnis des Festivals). Ebenso gab es spezifische Möglichkeiten, auf die nationale Kurzfilmproduktion zu blicken oder, enger gefasst, festzustellen, wie es um die Kurzfilmlandschaft in Nordrhein-Westfalen bestellt ist.

Besonders sei auf die Themenreihe dieser Festivalausgabe hingewiesen, „Memories Can’t Wait – Film without Film“, in welcher sowohl der Kinosaal als kultureller Ort reflektiert als auch über Projektionsmaterialien und -formen (und auch über die Abwesenheit ersterer) nachgedacht wurde. Man kann dieses Programm in einen Diskussionskontext mit dem Wandel vom fotografischen Film zu digitalen Projektions- und Archivformen stellen, der bereits in vergangenen Jahren angelegt wurde. Doch auch wenn es innerhalb des Festivalkonzepts eine solche Reflexionsstruktur bezüglich jenes Wandels gibt, muss man anmerken, dass es sich bei den Oberhausener Kurzfilmtagen genau genommen kaum noch um ein Filmfestival handelt. Besonders bei der aktuellen Erstellung und Verbreitung der kurzen Formen haben sich die digitalen Videoformate schon seit Jahren durchgesetzt, so dass das Festival in Oberhausen letztlich – bis auf retrospektive Vorführungen – eine „D-Cinema“-Veranstaltung ist.

Da allerdings einige der Säle des wunderbaren Oberhausener Lichtburg-Kinos nach wie vor über 16mm- und 35mm-Projektoren verfügen, kann die fast flächendeckende Hinwendung zur digitalen Projektion kaum als Begründung für das Fehlen einer größeren Retrospektive anlässlich des 60. Festivaljahrs dienen.

Aus einer Perspektive, die das Festival als aktuellen Sichtungs-, Austausch- und Bewertungsort sowie als Marktplatz für internationale Kurzfilme sieht, war es wohl so erfolgreich wie immer – für einen (film)historisch bewussten Blick indes fehlte eine dezidierte Betonung der historischen Vielfalt der kurzen Form, die im festivaleigenen Archiv schlummert und zum 60. Jahr nur als Randerscheinung geweckt wurde. Ein kleines, unsystematisches Programm „Aus dem Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen“ wurde zwar im Katalog angekündigt, fand jedoch nicht statt; was blieb, war ein aus Anekdoten zusammenassoziiertes Podiumsgespräch mit Hilmar Hoffmann und Lars Henrik Gass, dem ersten und dem aktuellen Festivalleiter. Diese Veranstaltung wurde der langen und facettenreichen Festivalgeschichte kaum gerecht. Das gelang eher der (im Katalog zwar erwähnten, aber nicht dokumentierten) Ausstellung „Begegnungen und Entdeckungen“ im Oberhausener Rathaus (die allerdings wegen der Öffnungszeiten des Ausstellungsortes recht begrenzt zugänglich war).

Es bleibt also die Frage, warum die historische Komponente beim gegebenen Anlass nur so randständig aufgegriffen wurde. Die Rede vom „Nach-vorn-Blicken“, die hier und da zu hören und zu lesen war, scheint doch etwas wohlfeil zu sein. Man könnte annehmen, dass ein Filmfestival mit einer derartig bemerkenswerten politisch-gesellschaftlichen Vergangenheit und so vielfältigen internationalen filmhistorischen Perspektiven durchaus eine Verantwortung gegenüber der eigenen Geschichte hätte. Ohne irgendeine Art von Nostalgie zu fordern, wäre das 60. Festival ein Zeitpunkt gewesen, zu dem die kreativen Ausrichtungen von verschiedenen Festivalleiterinnen und -leitern hätten gewürdigt, die Geschichte des Kurzfilms aus sechs Jahrzehnten hätte systematisch skizziert oder das Festivalarchiv als solches hätte ausgiebig präsentiert werden können.

All dies wären Beiträge gewesen, die den sich immer weiter verstärkenden Trends zur Enthistorisierung der Medien im Allgemeinen und des Kinofilms im Speziellen entgegengewirkt hätten.

Vor diesem Hintergrund sei auf die letzte große – extrem gelungene – Retrospektive des Festivals zurückgeblickt, die sehr wohl und obendrein nachhaltig dokumentiert ist.

Im Jahr 2012 jährte sich die Verkündigung des Oberhausener Manifests zum 50. Male. Diese provokative Veranstaltung am 28.02.1962, welche die Zäsur zwischen „Papas Kino“ und dem „Neuen Deutschen Film“ markieren sollte, ist sicherlich das historisch prägnanteste Moment in der Geschichte der Kurzfilmtage – egal welchen Stellenwert man ihr tatsächlich innerhalb der allgemeinen deutschen Filmgeschichtsschreibung zuweisen möchte. Die Gruppe von Filmemachern, die ihr Manifest damals mit: „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen“ beschloss, hat in den Jahrzehnten danach mal mehr, mal weniger die bundesdeutsche Medienlandschaft mitgeprägt, doch das Oberhausener Manifest macht als Kerndokument die Debatten um einen Wandel von Filmnarration und Filmästhetik noch immer greif- und strukturierbar.

Die Kinoretrospektive zum Oberhausener Manifest innerhalb der Kurzfilmtage 2012 präsentierte demnach eine große Auswahl von Filmen aus den späten 1950er bis zu den späten 1960er Jahren, mit dem Oberhausener Manifest als programmatischem Dreh- und Angelpunkt. Flankiert wurde der Rückblick von einer Buch- und – wenig später – von einer DVD-Veröffentlichung, die strukturell ähnlich aufgebaut sind, da alle drei Veranstaltungen und Publikationen zum Projektrahmen „Provokation der Wirklichkeit – 50 Jahre Oberhausener Manifest“ gehören.

Die Buchpublikation – „Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und seine Folgen“ – geht sogar über den genannten (film)historischen Kernbereich hinaus und präsentiert in einem ersten Abschnitt Dokumente aus den 1960er Jahren zum Oberhausener Manifest sowie zu Diskussionen des Neuen Deutschen Films bis in die 1980er Jahre. Der zweite Abschnitt des Bandes besteht aus einer Reihe von Essays, welche die Zeit um das Manifest und seine Folgen aus verschiedensten Blickwinkeln betrachten. Dabei gibt es dezidiert filmhistoriografische Darstellungen zur Vor- und Kerngeschichte des Manifests (z.B. in Beiträgen von Michael Wedel oder Klaus Kreimeier), Perspektiven auf Wechselwirkungen der „Oberhausener“ mit den Presse- und Literaturbetrieben (in Essays von Stefan Ripplinger und Till Greite) sowie Gedanken zu historischen Konstellationen wie den Beziehungen der Kurzfilmtage zur DDR oder der Nicht-Präsenz von Regisseurinnen beim Oberhausener Manifest (in Ausführungen von Andreas Kötzing und Claudia Lenssen). Abgerundet wird der Band durch einige Interviews und Portraits der 26 Manifest-Unterzeichner, die Olaf Möller recherchiert bzw. verfasst hat. Zur Geschichte des Manifests und dessen Auswirkungen dürfte dieses Buch die Publikation schlechthin sein – und alle, die sich ein Bild von der Tragweite, aber auch von der Beschränktheit dieses Ansatzes zu einem Neuen Deutschen Film, machen wollen, finden hier Materialien, Reflexionen und Ansatzpunkte für weitergehende Forschungen.

Viel plastischer und medienspezifisch greifbarer wird die Geschichte rund um das Oberhausener Manifest selbstredend durch die DVD-Veröffentlichung „Die ‚Oberhausener‘. Provokation der Wirklichkeit“. Hier sind auf zwei DVDs 21 Kurzfilme von Unterzeichnern des Manifests versammelt – darüber hinaus gibt es ein Booklet mit einem langen Essay von Ralph Eue, in dem das Manifest, dessen Auswirkungen und die anschließende Legendenbildung behandelt werden, sowie in einem ROM-Bereich der zweiten DVD etliche Dokumente (einige als Faksimile) und einen Video-Mitschnitt einer Podiumsdiskussion in München von 2012.

Die Kurzfilme aus den Jahren 1959 bis 1965 verdeutlichen das gesamte narrative und ästhetische Spektrum eines jungen deutschen Kinos, wie es von den „Oberhausenern“ (die eigentlich fast alle Münchener waren) gefordert und auch vertreten wurde.

Zu sehen gibt es z.B. den immer wieder als Hauptwerk der Bewegung angeführten Film „Brutalität in Stein“ (1961) von Alexander Kluge und Peter Schamoni, der sich filmisch mit den Hinterlassenschaften der Nazi-Architektur auseinandersetzt und damit – anders als viele andere Filme des westdeutschen Kinos zu jener Zeit – die faschistische Vergangenheit Deutschlands reflektiert. Zum gleichen Themenkomplex gehört auch Walter Krüttners Filmbeitrag „Es muss ein Stück vom Hitler sein“ (1963), der die damals aktuellen Touristenveranstaltungen auf dem Obersalzberg dokumentiert und damit einige Kontinuitäten deutscher Gesinnung entlarvt.

Für den Aspekt der ästhetischen Erneuerungstendenzen sei auf „Schatten“ (1960) von Hansjürgen Pohland und auf „Kommunikation“ (1961) von Edgar Reitz hingewiesen. Ersterer präsentiert die grundsätzliche abstraktive Kraft der Filmkamera, indem Schattendarstellungen zu ornamentalen Kompositionen auf der Kinoleinwand werden, letzterer zeigt durch eine assoziative Montage und viele Bildtricks die technischen und sozialen Aspekte moderner Kommunikation und ihrer Medien. Darüber hinaus ist er ein Beispiel für den Produktionszusammenhang zwischen experimentellem und Industrie-Film, in dem sich viele der jungen Filmemacher bewegt haben, da dieser Kurzfilm von der Deutschen Bundespost finanziert wurde.

Eine weitere typische Form des Jungen Deutschen Films, wie man die Strömung in den 1960er Jahren hauptsächlich nannte, war der sozial-bewusste Dokumentarfilm. Wie bereits in Reitz ‚Kommunikation‘ vereinen sich auch in Rob Houwers „Anmeldung“ (1964) Dokumentarfilmausrichtung und filmisch-ästhetische Neuorientierung. Dieser sozial-dokumentarische Blick wird denn dann auch in Filmen sichtbar, die Lebenszusammenhänge in Südeuropa thematisieren, so z.B. „Menschen im Espresso“ (1958) von Herbert Vesely, „Glühendes Eiland Kreta“ (1959) von Pitt Koch und „Süden im Schatten“ (1962) von Franz-Josef Spieker. In ihrer detaillierten Ausleuchtung von sozialen und kulturellen Zusammenhängen unterscheiden sich diese Filme immens von den ansonsten zu dieser Zeit im bundesdeutschen Kino populären Italienreise-Unterhaltungsfilmen und dem allgemein-gesellschaftlichen touristischen Habitus vieler Bundesbürger.

Zusätzlich zu diesen Beispielen für die Haupttendenzen der Neuausrichtung des deutschen Films präsentiert die DVD zwei Essay-Filme von 1965 und 1967, in denen die Manifestunterzeichner selbst auf die ersten Entwicklungen eines Neuen Deutschen Films zurückblicken.

Trotz der sehr komplexen Rechtslage bezüglich der Lizenzen und der schwierigen Materialverteilung in Archiven und Privatsammlungen haben es die Herausgeber der Kinoretrospektive und der DVD geschafft, diesen Ansatz zu einem Jungen bzw. Neuen Deutschen Film jenseits von Legenden und Überhöhungen direkt sichtbar zu machen. Diese Editionsleistung ist zu würdigen, es sei zudem angemerkt, dass alle Filme in restaurierten Fassungen vorliegen.

Zwei Ausgaben der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2012 und 2014 – einmal mit einer Höchstleistung filmhistorischer Programmgestaltung, ein anderes Mal mit einem Tiefpunkt bezüglich des Gespürs für die eigene Geschichte. Es bleibt aus einer filmhistorischen Perspektive zu hoffen, dass sich solche Extreme vielleicht auf ein Mittelmaß einpendeln, welches ein auf jede Ausgabe des Festivals gleichmäßig verteiltes historisches Bewusstsein schafft – obendrein vielleicht wieder mit einer Präsenz des frühen Kinos – wie in den Festivalprogrammen der Jahre 2010 und 2011. Doch das wäre eine andere Geschichte…

Die „Oberhausener“. Provokation der Wirklichkeit. (München, 2012)
Herausgeber: Filmmuseum München / Internationale Kurzfilmtage Oberhausen
Format: DVD
Verlag: Edition Filmmuseum
2 DVDs

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ralph Eue / Lars Henrick Gass (Hg.): Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhauser Manifest und die Folgen.
edition text & kritik, München 2012.
356 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783869161822

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