Ein geteiltes Doppelhaus

In „Panischer Frühling“ spinnt Gertrud Leutenegger ein dichtes Netz aus Gesprächen, um einst ertrunkene Erinnerungen den Wogen der Zeit zu entreißen

Von Markus BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wechselspiel zwischen Ebbe und Flut bedeutet ein fortwährendes Auftauchen und Verschwinden: Kleine Partikel, unachtsam Weggeworfenes und Verlorenes werden wieder an Land gespült oder ins Meer gerissen. In den Gezeiten symbolisiert sich für die vielfach ausgezeichnete, 1948 in der Schweiz geborene Schriftstellerin Gertrud Leutenegger das Kommen und Gehen von Erinnerungen. In ihrem 2014 erschienen Roman „Panischer Frühling“ stellen die periodischen Wasserbewegungen der Themse den Rahmen dar, in dem sich die Icherzählerin und Jonathan ihre Geschichten erzählen.

In dem durch Überschriften wie „Low“ oder „High Water“ unterteilten Roman wird der Londoner Flugverkehr durch den Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull außer Betrieb gesetzt. Den Stillstand am Himmel nutzt die Ich-Erzählerin zum Flanieren durch London. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt beobachtet sie andere, nimmt aktiv oder passiv an deren Gesprächen teil und zeichnet ein multikulturelles Mosaik Londons aus jamaikanischen Hair Shops, die von umherziehenden Vorstadtbanden zerstört werden, aus bengalischen Cafés oder britischen Obdachlosen. Die Geschichte Londons wird als die der vielen Einzelnen dargestellt. „Ganz London ist voll von Geschichten aus der Ferne,… das macht die Erinnerungsfähigkeit solcher Städte aus, daß die Lebenskraft ihrer Bewohner von so weit her kommt“.

Höchst sensible reagiert die Icherzählerin auf jegliche Eindrücke der Umgebung. Das Schlagen von Türen, der Duft der Cafés, die farblichen Konturen der Hausfassenden und Grünflächen lassen in ihr unwillkürlich ein Strom aus Bildern der Vergangenheit entstehen. Winzige grüne Partikeln verdichten sich zu einer Waldtapete eines Zimmers aus der Kindheit. Aus dem Schrei eines Vogels wird ein gesamter Sommerausflug: „Wenn eine Möwe kreischte, höre ich gleich das Meer rauschen, die herandonnernden Wellen, das Klirren des Schotters am Ufer, dann bin ich wieder im Haus meiner Großmutter, die mich von klein auf jeden Sommer aus Newlyn nach Penzance holte“.

Die zunächst an Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erinnernden Assoziationen zwischen dem Außen und der Innerlichkeit verborgener Momente reichen jedoch weit über den biographischen Horizont der Icherzählerin hinaus. In ihren Erinnerungsbildern verbindet sich das Jetzt mit dem Jüngstvergangenen und jahrhundertealten Narrativen wie in den figurativen Darstellungen Neo Rauschs, ohne aber dessen kulturpessimistischen Grundton zu teilen. So ragen die Bäume der Waldtapete gar hinein in die graue Vorzeit, als London noch nicht gegründet und eine bewaldete Fläche war.

Eine individuelle und kollektive Geschichte wird durch die sinnliche Wahrnehmung erschlossen, die im Wandeln der Icherzählerin einen mehrdimensionalen Raum zwischen verschiedenen Orten und Zeiten aufspannt. Die in das Lyrisch-Poetische reichende Sprache tastet das Beobachtete ab, umspinnt und setzt es in Verbindung zueinander. Statt eine lineare Erzählung von Geschehnissen stellt der Roman ein flexibles Beziehungs- und Bildgewebe von Dingen, Geständen, Menschen und Erinnerungen dar. Die Möglichkeit der Gegenwart alles Vergangenen in allen Momenten ist das zentrale Thema dieses Assoziationssoges. „Glauben Sie nicht auch manchmal, […] daß ihre Großmutter immer noch […] am Fenster sitzt und aufs Meer hinausschaut und daß es barbarisch ist, nicht an die Fortdauer gewisser Dinge zu glauben?“ Motive des Bewahrens von Vergessenem und Abgestorbenem durchziehen den Roman. „Eines Tages kommen die Ertrunkenen zurück, […] was die Ebbe nimmt, bringt die Flut wieder“. Glück stellt sich ein, wenn Freundschaften und Familienmitgliedern im Medium der Erinnerung gerettet werden können. Misslingt es „überkam mich […] eine körperliche Traurigkeit. Ungeahnte Ängste brachen auf“.

Entgegen der Ängste der Abwesenheit, angetrieben durch die Erfahrung des Glücks der Erinnerung lässt sich die Icherzählerin immer weiter, bis zu den Gezeiten der Themse treiben. Dort lernt sie Jonathan kennen, der Obdachlosenzeitungen verkauft und dessen Gesicht durch ein Feuermahl zur Hälfte entstellt ist. Zögerlich entsteht zwischen den beiden durch tägliche, erst behutsam tastende, dann offener geführte Gespräche eine intime Beziehung. „Sein verschwenderisches Erzählen hatte eine solche Weise des Vertrauens geschaffen, in der ich mich nicht nur zugelassen, sondern sogar aufgenommen fühlte. Nie wie in solchen Augenblicken werden, wenigstens für kurze Zeit, die Gespenster der Welt beschwichtigt“. Im Anderen finden sie Halt. Das Reden miteinander ist „wie ein Gehen über Wasser. Solange wir redeten, ertranken wir nicht“. In dieser Beziehung der Geborgenheit erzählt sie ihm von den Urlauben auf dem Pfarrhof des Onkels und dessen für Kinder geheimnisvollen Zimmern; er ihr vom Tod des Vaters, dem Aufwachsen bei der Großmutter und den Grausamkeiten anderer Kindern, die ihn wegen seines Gesichts hänselten.

Ein besonderes Gespür für den narrativen Charakter von Erinnerung und Biografie zeichnet den Roman aus. In den Erscheinungen und Dialogen der ProtagonistInnen stellen beide wechselseitig das Medium dar, in dem sich die eigenen Erinnerungen überhaupt erst kristallisieren. „Aber welches Bild nur, versunken in der Vergangenheit, wurde von den bloßen Armen Jonathans heraufbeschworen und verlangte gebieterisch nach Leben“? Sukzessive werden sie Teil der Biografie des jeweils Anderen, bis dessen Fehlen sogar das des eigenen biografischen Horizonts bedeutet. „Redete ich mit Jonathan, waren auch die in der Ferne mir lieben Menschen nah. Tat ich es länger nicht, rückten sie weiter weg“.

Im gemeinsamen aneinander Festhalten zeigt sich die enorme Verletzbarkeit der ProtagonistInnen. Diese gründet in traumatischen Erfahrungen, auf deren Offenlegung der Spannungsbogen des Romans gerade gen Ende zielt. Es hat den Anschein, als steuern alle Gespräche darauf zu, das Versiegelte endlich zu öffnen, mitzuteilen und zu bewältigen. „Da gab es etwas in mir, […] worüber ich nie zu jemanden gesprochen hatte“. Sie erzählt im vom Tod des Vaters, er von dem der Großmutter. Als er sie tot im Sommerhaus auffindet, rennt er weg aus dem kleinen Küstenort Penzance, rennt, soweit er kann, bis er die London Bridge erreicht, die er bis zur Begegnung mit der Icherzählerin nicht mehr verlassen wird.

Doch plötzlich, nachdem Jonathan ihr ein „Gewicht, niederdrückender als die Last der von Fäule zerfressenen Wange“ in die Arme gelegt hat, verschwindet er. Verzweifelt, weil „da […] eine Geschichte [war], die ich Jonathan erzählen wollte“; weil sein Verlust der ihrer eigenen Welt bedeutet, irrt sie in London umher, richtet all ihre Denken und Empfinden auf ihn aus. „Alles, was mich daran hinderte, in seinem Verlust zu wohnen, empfand ich als Vertreibung meiner letzten Zuflucht“. Diese findet sie nicht mehr in London. Im Gefühl, heimwärts zu reisen, macht sie sich auf dem Weg nach Penzance, um das „Haus seiner Großmutter […] und mein verlorenes Sommerhaus zu einem Doppelhaus zusammenzufügen“.

Titelbild

Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
221 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424216

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