Zwischen Assimilation und Antisemitismus

Egon Schwarz’ „Wien und die Juden. Essays zum Fin de siècle“

Von Barbara MariacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mariacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Spannungsverhältnis zwischen Juden und Antisemiten in Wien um die Jahrhundertwende ist der Hauptgegenstand von „Wien und die Juden. Essays zum Fin de siècle“. Dessen Autor, Egon Schwarz, ist ein 1922 in Wien geborener Literaturhistoriker, der 1938 zur Flucht vor den Nazis gezwungen war. Im Alter von siebzehn Jahren emigrierte er nach Bolivien, wo er sich viele Jahre unter schwersten Bedingungen durchzuschlagen hatte. Herausgerissen aus dem Wiener Alltag eines Gymnasiasten, aus „Kindheit und Zukunftserwartungen, […] Freundschaft und Studium“ und hineingeworfen in eine „schier endlose Nomadenexistenz […] mit schwerer körperlicher Arbeit und einem Schinderlohn als Handlanger“, entwickelt sich der junge Flüchtling zu einem der anerkanntesten Germanisten der USA.

Egon Schwarz hatte unter anderem Professuren an der Harvard Universität und in St. Louis inne und ist Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Eine der Voraussetzungen für diesen bemerkenswerten Lebensweg ist seine früh entwickelte und auch im bolivianischen Exil gehegte und gepflegte „Lust am Wort“. Sie veranlasste ihn dazu, alle neuankommenden Exilanten mit der stets gleichen Frage zu begrüßen, nämlich „Haben Sie Bücher mitgebracht?“ Diese wurden dann auf das Gründlichste gelesen und studiert, wodurch sich Schwarz eine wichtige Basis für seine spätere Karriere schuf.

Anlässlich des neunzigsten Geburtstages des großen Wissenschaftlers hat Jochen Bloss nun unter dem Titel „Wien und die Juden“ sieben seiner Aufsätze zur österreichischen Literatur herausgegeben, die im Zeitraum von 1975 bis 1995 erschienen sind. Gemeinsam mit zwei autobiografischen Texten formen sie ein überaus kenntnisreiches, eloquent geschriebenes und wissenschaftlich fundiertes Buch, dem allerdings an manchen Stellen seine Zeitgebundenheit abzulesen ist. So antwortet beispielsweise der Essay über „Joseph Roth und die österreichische Literatur“auf eine in den siebziger und achtziger Jahren in Österreich virulente Diskussion über die spezifischen Kriterien einer österreichischen Literatur. Diese Diskussion, die in ihrem Frühstadium dadurch geprägt war, die Besonderheiten der österreichischen Literatur aus dem Nationalcharakter abzuleiten, ist nach dem heutigen Stand der Wissenschaft und spätestens aber nach Erscheinen von Klaus Zeyringers Studie „Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Österreichische Literatur der achtziger Jahre“ im Jahre 1992 überwunden. Dies hätte vielleicht in einer Fußnote angemerkt werden können, zumal gerade der von Egon Schwarz schon sehr früh vertretene Ansatz, die Literaturbetrachtung mit der Sozialgeschichtsschreibung zu verbinden, aus dieser wissenschaftlichen Sackgasse geführt hat.

Dieser von Egon Schwarz stets postulierte literaturwissenschaftliche Ansatz, der aus der Verbindung des „Poetischen mit dem Sozialpolitischem“ besteht, prägt denn auch das erste Kapitel des Buches. Es beinhaltet die Beschreibung der sozialhistorischen Umstände des Fin de siècle in Wien und besteht aus einem Aufsatz, der unter dem Titel „Schmelztiegel oder Hexenkessel“ die Hintergründe der zunehmenden Polarisierung zwischen Juden und Antisemiten um 1900 beschreibt. Dargestellt werden die historischen und gesellschaftspolitischen Umstände, die nicht nur die Lebensbedingungen jener Autoren prägen, die Schwarz in seinem Buch abhandelt, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung ihrer Werke mitbestimmten.

Franz Werfel, Arthur Schnitzler und Joseph Roth, aber auch der etwas weniger bekannte Karl Emil Franzos, sie alle sind Juden, die sich auf unterschiedliche Weise zu ihrer Herkunft verhalten und auf ebenso unterschiedliche Weise die präfaschistischen Entwicklungen in Wien wahrnehmen und in ihren Werken zum Ausdruck bringen. Sie lebten in jenem multinationalen Völkerkomplex, der noch von den Strukturen der k.u.k. Monarchie zusammengehalten wurde und den Egon Schwarz als „Staat uralter Prägung“ beschreibt, als einen „erratische[n] Block in einer bereits nach ganz anderen Gesetzen sich entwickelnden Welt“. In seiner Hauptstadt vollzog sich eine massive Einwanderung von Juden aus den östlichen Gebieten der Monarchie, die „einzigartig in ihren Dimensionen“ war. Sie erfolgte als Zuzug in „eine wesentlich noch christliche Gesellschaft“ und brachte „als Gegenbewegung einen Antisemitismus ganz eigener Prägung“ mit sich. Sein polemischer Wortführer war der Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger.

Als Ursache für diese enorme Zuwanderungswelle, die dazu führte, dass 8,7 Prozent der Wiener Bevölkerung um 1900 jüdischer Herkunft war, führt Egon Schwarz die Verbindung von „Verlockung und Bedrohung“ an; letztere stand in Zusammenhang mit Hungersnöten, Epidemien sowie der chronischen Überbevölkerung in den ostjüdischen Schtetln. Verlockung hingegen ergab sich aus der kaiserlichen Politik der „Germanisierung“, die „Toleranz mit Assimilationszwang“ geschickt zu verbinden wusste, was sich für viele Schtetljuden so auswirkte: „Auszug aus dem östlichen Schtetl oder Ghetto, Einstieg in einen Zweig des Handels, Gewerbes oder der Industrie, Aufstieg zum Wohlstand, Übersiedlung nach Wien […], Heirat mit der Tochter einer schon früher emanzipierten Familie, die […] den Kindern eine geradezu fanatische Liebe zur deutschen Kultur und insbesondere Literatur einflößte.“

Dass diese Liebe, die zu einer enormen geistigen Blüte um die Jahrhundertwende führte, von der Wiener Bevölkerung vielfach mit Neid und Hass, Ablehnung und Diskriminierung beantwortet wurde, gehört zu den bittersten Kapiteln der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Noch hundert Jahre später ist es erschreckend zu lesen, auf welche Weise zum Beispiel das Werk und die Person Arthur Schnitzlers von antisemitischer Seite damals diskreditiert wurden. Es ist daher auch ein sehr schmerzliches Buch, das einen differenzierten Blick auf die Geschichte bewahrt und jedweder Vereinfachung literaturhistorischer Zusammenhänge entgegenarbeitet.

Titelbild

Egon Schwarz: Wien und die Juden. Essays zum Fin de Siècle.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
176 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406661341

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