„Beobachten – Die letzte Freistadt des Weisen“

Über die Edition von Karl Philipp Moritz’ Zeitschrift „Denkwürdigkeiten“ im Rahmen der Werkausgabe

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der innerhalb der Sämtlichen Werke Karl Philipp Moritz’ erschienenen Zeitschrift „Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen“ ist ein erhabenes, fast schon klassizistisches Idealdenken eng mit dem Interesse an der Alltäglichkeit verknüpft, dem realen Weg der menschlichen Natur und der gesellschaftlichen Beschaffenheit. „Die gütige Natur schuf und bildete den menschlichen Geist, und brachte das mittelbar durch ihn hervor, was sie selbst unmittelbar nicht würde hervorgebracht haben“, heißt es da emphatisch über das quasi autopoietische Zusammenspiel von Natur und Geist.

Dieses Spiegelmotiv kommt zum Tragen, wenn Moritz ausführt, dass sich die Natur im menschlichen Geist selbst erkennt und damit die höchste Stufe der Verwirklichung erreicht. Dass es eine solche Graduierung und Fundierung durch das Verhältnis von Natur und Geist gebe, macht das Besondere seines Denkens aus: Moritz formuliert eine Aufklärungsphilosophie, die sich anthropologisch informiert zeigt, aber zugleich auch teleologisch an einem Zielpunkt orientiert: „Ob nun gleich der Mensch so oft seinen Werth verkennt […] so leitet ihn dennoch die gütige Natur durch alle das Gewirre der Geschäfte und die Krümmungen des Lebens unvermerkt dem großen Endzweck näher, wozu sie ihn schuf. –“.

Daher ist ihm das menschliche Skelett zunächst Bild des Unassimilierbaren, des Todes, der in der Natur keinen Sinn zu machen scheint: „Und nun hat sie / die Natur / selbst diesen kostbaren Spiegel zerschmettert, worin sich ihre Gestalt so herrlich abgebildete –“. Aber nicht nur die Kreisläufigkeit der Natur, sondern auch die angesichts des Gerippes dem Betrachter zufliegende Ahnung der Geisterwelt führen aus der Aporie hinaus, die unendliche Reflexionen entspringen lässt. Von diesem relativen Endpunkt aus gerät Moritz alles zum Gegenstand einer „Philosophie des Lebens“ – von daher auch der Reichtum an unterschiedlichsten literarischen Formen, Beobachtungsgegenständen und Philosophieansätzen. Sie resultieren alle aus einem Beobachtungsglück und münden in dem Wunsch nach Amelioration (man denkt unvermittelt an Alexander Kluge!).

Lothar Müller bemerkte in seinem „Karl Phlipp Moritz-ABC“, dass „die Schriften von Karl Philipp Moritz eine Fundgrube für die Herausbildung des modernen Alltagsbegriffs in der adjektivischen Verpuppung [sind]. Sie halten die Verbindungen des Alltäglichen zum Niedrigen und Gemeinen, zum Ekel und Überdruß fest. Zugleich nähern sie sich dem Alltag wie einem Kontinent, den es als noch weitgehend unerkannte Region des ‚Interessanten‘ zu entdecken und zu erforschen gilt.“

Hierzu dienen Moritz ähnlich wie in der parallel erschienenen, weit bekannteren und langlebigeren Zeitschrift „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ Beispiele vom Leben des Genies, die Kindesentwicklung, die Pädagogik, die Kunstgeschichte, der zeitgenössische Theaterdiskurs, Moralphilosophie, Psychologie, Reiseberichte als Bereiche, aus denen sich die Themen der Artikel speisen. Moritz war, das zeigen die seinerzeit durchaus erfolgreichen „Denkwürdigkeiten“, einer der wichtigsten und engagiertesten Publizisten und Zeitungsleute seiner Zeit, der auch für eine kurze Periode die „Vossische Zeitung“ herausgab und in einem grundlegenden Text „Ideal einer vollkommnen Zeitung“ (1784) die zwei Jahrhunderte lang folgende große Epoche des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens als eines Öffentlichkeit herstellenden Kommunikationsmediums theoretisch inaugurierte.

Moritz gab die „Denkwürdigkeiten“ 1786 im Berliner Verlag Johann Friedrich Ungers allein heraus und schrieb auch weitgehend die meisten Beiträge in dem nur in zwei Quartalen in 24 Stücken unter seiner Herausgeberschaft erscheinenden Periodikum. Im Frühjahr vor dem Aufbruch zu seiner biografisch wichtigen Italien-Reise, an der vor allem auch die Bekanntschaft mit Goethe hervorzuheben ist, entwickelte der Allround-Denker seine ästhetischen und gesellschaftlichen Überlegungen weiter, die dann mit dem „Italien-Erlebnis“ ihre für Moritz schon klassisch zu nennenden Formulierungen finden sollten. Vieles in den „Denkwürdigkeiten“ entstammt dem Umkreis von Ideen und Beobachtungen, die Moritz auch in anderen Zeitschriften und literarischen Kontexten wie den „Beiträgen zu einer Philosophie des Lebens“ formuliert hatte oder später formulieren sollte. So finden Überlegungen über Zeit und Ewigkeit Eingang in die italienische Reisebeschreibung und manche Fabel geht in die Kinder-Logik ein. Außerdem sind einzelne Bemerkungen zu den Titulaturen Teil der Beschäftigung mit den beiden von Moritz geschriebenen Briefstellern, und es findet sich als Proto-Ästhetikum eine Reflexion über Zeichen bei den Taubstummen als Fragment eines Moritz immer wieder beschäftigenden philosophisch-psychologischen Zusammenhangs von Sprache und Bedeutung. Aktuell fällt in die Erscheinungszeit der „Denkwürdigkeiten“ die fortgesetzte Beschreibung von Leben und Charakter Moses Mendelssohns, der im Januar 1786 gestorben war und den Moritz zu seinen Freunden zählen durfte. (Mit seinem Brief an den Philosophen Jacobi ventilierte Moritz Vorwürfe, Jacobi habe durch eine strenge Kritik an Mendelssohns Tod Mitschuld gehabt, was einen skandalösen Streit um Mendelssohns Philosophie entfachte.)

In den vorliegenden Band 11 der Werkausgabe sind auch die Zeugnisse der nicht wenigen Übersetzungen und Herausgaben von Moritz aufgenommen worden. Da nicht die herausgegebenen Texte in ihrer gesamten Länge gebracht werden können, hat sich die Herausgeberin Claudia Stockinger für den Abdruck der von Moritz verfassten Vorworte und Anmerkungen mit dem jeweiligen dazugehörigen Textabschnitt entschieden. Zu den bekanntesten Beispielen gehört zweifellos Moritz’ Vorwort zu seiner Herausgabe von „Salomon Maimon’s Lebensgeschichte“ (1792/1793), die über die Jahrhunderte immer wieder aufgelegt worden ist. Zentral sind nach der England-Reise von 1782 Übersetzungen englischer moralphilosophischer Abhandlungen. So etwa John Beatties „Grundlinien der Psychologie, natürlichen Theologie, Moralphilosophie und Logik“ (1790), das insbesondere auch durch seine Sprachtheorie für Moritz von Interesse war und ausführliche Kommentare des Autors enthält, die er allerdings seiner bereits 1782 publizierten „Deutschen Sprachlehre für die Damen“ entnahm.

Mit dem Abdruck der Zeitschrift „Denkwürdigkeiten“ und den Bemerkungen des Spätaufklärers Moritz zu Übersetzungen vor allem aus dem Englischen, arbeitet der neue Band der Werkausgabe mit an der präziseren Zeichnung der nun allmählich sichtbar werdenden publizistischen Gestalt des Klassikers am Ende des 18. Jahrhunderts.

Titelbild

Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke - Bd. 11: Denkwürdigkeiten. Vorworte, Nachworte und Anmerkungen zu von Moritz herausgegebenen Werken.
Herausgegeben von Claudia Stockinger.
De Gruyter, Berlin/Boston 2013.
758 Seiten, 189,95 EUR.
ISBN-13: 9783110332285

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