Glücklicher Vater, glücklicher Sohn

Über Hanns-Josef Ortheils Reiseroman „Die Berlinreise“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahre 1964 reist ein zwölfjähriger Junge namens Hanns-Josef „Johannes“ Ortheil mit seinem Vater nach Berlin, wo sie acht Tage verbringen. Die Mutter ist aus Furcht vor alten Erinnerungen zu Hause in Köln geblieben. Johannes schreibt ein Tagebuch. Er wird (laut Vorwort) die Aufzeichnungen „in eine erzählerisch ausgeschmückte Form“ bringen und sie seinem Vater zu Weihnachten schenken. Jetzt hat Hanns-Josef Ortheil sein Werk – in kaum überarbeiteter Form (wir kommen darauf zurück) – unter dem Titel „Die Berlinreise“ ediert.

Das Ganze ist zunächst ein Erlebnisbericht, der viele Einzelheiten wiedergibt. Der Junge ist hochgradig wissbegierig. Schon bei der Hinreise durchwandert er neugierig den Zug (und sucht nicht das Klo, wie die Mitreisenden meinen), bei der langsamen und lang andauernden Einfahrt nimmt er, „dicht am Fenster“, die Riesenstadt intensiv wahr. Als Reinhold, der Berliner Freund des Vaters, die beiden Ankommenden heftig weinend umarmt, ist ihm dies so fremd, dass er „es einfach nicht ertragen“ kann und woandershin schaut. Johannes beschreibt die Einrichtung und die Atmosphäre der Frühstückspension mit den freundlichen Inhabern, einem Ehepaar. Er vertieft sich während der S-Bahn-Fahrten, den Autofahrten mit Reinhold und den Gaststättenbesuchen in die Berliner Mentalität; er beobachtet und belauscht bei den Stadtrundfahrten durch West-Berlin und durch Ost-Berlin die Eigenarten der Touristenführer. Gelegentlich spaziert er allein herum, während die beiden Erwachsenen beim Bier sitzen. Er bewundert die Gebäude, die, wie man ihm sagt, unter dem Vorzeichen des „Neuen Bauens“ entstanden sind: Das Innere der Philharmonie erscheint ihm „hoch und weit und doch federleicht“. Manches in Berlin kennt er schon, denn er hat den Besuch des amerikanischen Präsidenten Kennedy in Berlin im Vorjahr am Fernseher verfolgt. In einem französischen Bistro in Friedenau erlebt er mit dem Vater die Welt der „Maler und Künstler“, oder was sie dafür halten. Sie sehen in einem Kellertheater eine Inszenierung des Stücks „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert, das den Jungen überfordert: „Ich habe noch nie ein solches Stück ohne jede Spannung gesehen“. Bei den beiden Besuchen in Ost-Berlin erscheint ihm das Leben dort „gebremst“, „wie in einem Traum ohne Farben“.

Der poetische Höhepunkt von Johannes’ Schilderungen ist die Szene, in der er zufällig in das Fischgeschäft gerät, in dem seine Mutter einst eingekauft hat, und die Inhaberin – im Laufe des Gespräches – errät, dass sie hier den Sohn ihrer früheren Kundin vor sich hat. Und zwar errät sie es, als Johannes, ganz verunsichert in diesem Laden und nicht mehr weiter wissend in seinem Auftreten als Kunde, plötzlich von seiner Mama erzählt: Sie „mag am liebsten Schillerlocken. Sie schneidet sie klein und übergießt sie mit einer Dillsauce, die sie selber macht.“

Hier spielt die Familiengeschichte eine Rolle, wie überhaupt die Vergangenheit und die Geheimnisse der Familie immer wieder zur Sprache kommen. Reinhold und seine Familie haben die Haushaltsbücher der Mutter über zwanzig Jahre lang aufbewahrt. Ab Oktober 1939 hatte sie diese Bücher geführt: „Der Krieg hatte gerade begonnen, und alle waren in Sorge, was sich in Berlin verändern und wann der Krieg nach Berlin kommen werde.“

Der Vater erzählt Johannes, dass die Mutter eine Totgeburt erlebt hat, und teilt ihm auch mit, dass der zweite Sohn von einer Handgranate der Deutschen getötet worden ist. Auch von seinen furchtbaren Kriegserfahrungen im Schützengraben berichtet der Vater. „Die Schüsse hätten seinen Freund in den Kopf getroffen, er sei sofort tot gewesen. Ich konnte mir so etwas Schlimmes gar nicht vorstellen, und ich wollte es auch nicht.“

Und weiter: „Doch nach einer Weile habe ich noch gesagt: ‚Wenn Du damals den Kopf aus dem Graben gestreckt hättest, wärest Du heute tot.‘ Und Papa antwortete: ‚Ja. Dann wäre ich heute tot,‘“ Ja, „heute tot“ heißt es, nicht: damals gestorben. Die Schreckensvision „heute tot“ ist ergreifend und bezeugt in radikaler Weise das Verbundensein zwischen Sohn und Vater – ein Verbundensein, das eine familiäre Intimität und zugleich eine Männerfreundschaft ist. Johannes drückt diese Männerfreundschaft und das Glück, in dem sich die beiden Reisenden befinden, nur verhalten aus, in einer Postkarte an seine Mutter: „Du wirst staunen, welche gesunden Naturburschen wir inzwischen geworden sind.“

Man spürt in solchen Passagen, wie sensibel der Tagebuchschreiber für die Sprache ist. Sehr oft widmen sich die Aufzeichnungen dem Sprachgebrauch: „Ich glaube, ein Hort ist etwas zum Gruseln.“ „Niemand in unserer Familie mag das Wort Bummel.“ „Ich sagte [zu einem Berliner], dass ich die Stulle ein Pausenbrot nennen würde.“ Nebenher während der Reise liest Johannes „Winnetou Band III“ von Karl May; er berichtet darüber: Der „Mann ohne Ohren sagte o wonderfull und auch Hang it all. Auch diese Worte gefielen mir wieder sehr, und ich merkte sie mir und flüsterte sie kurz vor mich hin.“ Sie verursachen ihm einen „Kitzel im Kopf“. Es ist geradezu unglaublich, wie hier bei einem Kind die Freude an den sichtbaren Dingen und die Freude an der sprachlichen Bewältigung dieser Dinge zusammenfließen. Ein zwölfjähriges Kind mit diesem Verständnisradius ist ein Wunderkind. Es ist bekannt, dass Hanns-Josef Ortheil, der lange Zeit Autist war, im Alter von acht Jahren seine erste Erzählung in einer Kölner Zeitung veröffentlicht hat.

Freilich muss man sich auch fragen: Wie original ist diese Edition? Wir wissen, dass der junge Ortheil sein Werk überarbeitet hat, ehe er es Weihnachten 1964 seinem Vater geschenkt hat, und es ist offenbar, dass Ortheil jetzt, fünfzig Jahre später, erneut in den Text eingegriffen hat. Zumindest hat er die neue Rechtschreibung eingeführt. Zu vermuten ist ferner, dass die sehr zahlreichen Stellen in indirekter Rede ursprünglich grammatisch nicht einwandfrei waren. Aber im Großen und Ganzen hat Ortheil seinen frühen Text nicht verändert. Ich schließe dies daraus, dass sich Fehler finden, die einem Erwachsenen oder jedenfalls einem Schriftsteller nicht unterlaufen würden. Zum einen der Fehler um den Begriff „Fremdwort“. Wir lesen: „Die Fremdworte in den Büchern von Karl May habe ich mir fast alle gemerkt.“ Nein, der Junge meint nicht Fremdwörter („Fremdworte“ gibt es sowieso nicht), sondern er meint nicht-deutsche Sprachproben, also fremdsprachliche Wendungen, englische und indianische, die May in sein Erzählen hat einfließen lassen. Zum andern fällt das Wort „viel“ auf, das Kinder, und so auch Johannes, sehr undifferenziert gebrauchen: Ich sah den „vielen Stacheldraht“ auf der Mauer, das Eisbein glänzte „im vielen Licht“, es gab Frühstück „mit Wurst, Käse und vielen Marmeladen“. Wäre das Tagebuch lektoriert worden, wären diese Wendungen nicht mehr da.

Eine Bemerkung noch zu der Umstellung auf die neue Rechtschreibung. Sie wäre besser unterblieben. Denn dann erschiene das Werk authentischer. Außerdem ist diese Umstellung misslungen, nämlich lückenhaft: Etwa finden sich Fluss und Fluß nebeneinander, ebenso Abschluss und Abschluß, „iß doch!“ und „man isst“.

Ortheils „Berlinreise“ ist ein Buch, das in das Berlin von 1964, fast noch der Nachkriegszeit, führt, das die Intimität und die Freundschaft zwischen einem Sohn und einem Vater schildert und das in sein Erzählen immer wieder Probleme unserer Sprache einbringt – und all dies eindeutig aus der Perspektive eines hochintelligenten Zwölfjährigen. Es ist eine mitreißende Lektüre.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Die Berlinreise.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
288 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874302

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