Stadt, Land, Schluss

Die Suche nach Heimat führt Annemarie Schwarzenbach in ihren Romanen bis ans Ende der Welt

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts war eine Epoche der radikalen Umwälzung in Europa und dem Rest der Welt. Das hohe Tempo der Industrialisierung und Technisierung hatte einen aggressiven Wettbewerb zwischen den westlichen Mächten um die globale Vorherrschaft zur Folge. 1914 sollte er auf militärischem Wege gelöst werden.

In diesen Jahrzehnten, als westliche Staaten große Teile Asiens und Afrikas besetzten, ausbeuteten und noch schneller „verwestlichten“, reisten auch viele westliche Intellektuelle in diese Gebiete. Neben der Neugier für das Exotische und dem Wunsch, aus dem Alltag auszubrechen, war ein Unbehagen an der Modernisierung ein wichtiger Beweggrund für die Schriftsteller, Philosophen und Künstler.

Die Schweizer Autorin Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) steht exemplarisch für diesen Typ des suchenden und reisenden Intellektuellen. Nach ihrem frühen Tod erlebte die Tochter aus wohlhabendem Hause Mitte der 1980er-Jahren keine Wieder-, sondern eigentlich eine Erstentdeckung, wobei von Anfang der Person der Autorin mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde als ihren Werken. Der nächste „Schwarzenbach-Hype“ erfolgte 2008 aus Anlass ihres 100. Geburtstags, als neben Ausstellungen mehrere Biografien und Neuausgaben ihrer Romane, Erzählungen und Reisetexte veröffentlicht wurden.

Der Lenos Verlag, in dem seit den 1980er-Jahren ein Großteil von Schwarzenbachs Werken wieder- oder erstmals aufgelegt wurde, hat nun drei ihrer Romane in einem Band publiziert. Für das gebundene kleinformatige Smartcover hat der Schwarzenbach-Kenner Roger Perret neben der „Lyrischen Novelle“ (1933) zwei aus dem Nachlass veröffentlichte Romane ausgewählt: „Flucht nach oben“ (1999) und „Tod in Persien“ (1995).

Die drei Romane spiegeln Schwarzenbachs verzweifelte Suche nach einem Ort der Geborgenheit, einem Platz in der Gesellschaft, einer Heimat wider. Aus einer deutschnational gesinnten Industriellenfamilie stammend, grenzte sich die promovierte Historikerin früh von ihrer Sippe ab – durch ihre Freundschaft mit Erika und Klaus Mann, den offenen Umgang mit ihrer Homosexualität und ihre schriftstellerischen Ambitionen. Nach einem Aufenthalt in Paris zog sie 1931 nach Berlin, wo ihr Roman „Lyrische Novelle“ teilweise angesiedelt ist. Der wohlhabende und verwöhnte Ich-Erzähler pendelt darin zwischen dem Nachtleben in der Reichshauptstadt um die Zeit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten und einem kleinen ruhigen Ort in der brandenburgischen Provinz. Hier reflektiert der Ich-Erzähler seine Beziehung zur Varieté-Sängerin Sibylle, die er begehrt, die ihn aber zappeln lässt.

Die „Lyrische Novelle“ besitzt Potenzial, um Leser zu packen. Sie lernen in der Hauptfigur einen jungen Mann kennen, der sich in der saturierten großbürgerlichen Gesellschaft, in der er sich bewegt, einsam fühlt. Er klagt über Müdigkeit und Antriebslosigkeit und leidet an Weltschmerz, nimmt zugleich aber keine Rücksicht auf Konventionen, wenn es darum geht, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er handelt passiv, ängstlich und kindisch und scheitert mit dem Versuch, aus seinem goldenen Käfig auszubrechen, an sich selbst.

Schwarzenbach hat mit ihrer „Lyrischen Novelle“ ein Selbstporträt gezeichnet, das literarisch überzeugt, auch weil sie weder ins Peinliche noch Kitschige abgleitet. Ihr Roman ist ein kleines, fein gewobenes Kunstwerk. Aufregend sind die Passagen, in denen das Alter ego der Autorin über das Schreiben reflektiert und durch seinen Stil erkennen lässt, wer ihre Vorbilder waren: Rilkes „Malte Laurids Brigge“ steht für die moderne Stadterfahrung, Knut Hamsuns „Segen der Erde“ für die – stark überhöhte – Erdverbundenheit der Bauern; Gides „Immoralist“ schließlich dient als Folie für eine Auseinandersetzung mit gleichgeschlechtlicher Liebe und der Sehnsucht nach Ursprünglichkeit.

In „Flucht nach oben“ setzt Schwarzenbach den Kontrast zwischen Stadt und Land wieder ein. Diesmal spielt der Roman beinahe ausschließlich in einem österreichischen Bergkurort. „Flucht nach oben“ wurde im Mai 1933 abgeschlossen und ist ein Höhepunkt in Schwarzenbachs literarischem Schaffen. Mit ihm versucht sie Thomas Manns „Zauberberg“ für ihre Themen zu adaptieren und setzt dafür ein für ihre Verhältnisse großes Ensemble an Figuren aus verschiedenen sozialen Klassen ein: Trotz Unterschieden sind ihre Hauptfiguren auch hier allesamt Außenseiter, die mit dem Alltag nicht klar kommen und ihr Glück in den Bergen suchen.

Einer von ihnen ist Francis von Ruthern, der nach acht Jahren in Südamerika in die alte Heimat zurückkehrt. Die Passagen über dieses „Traumland“, seine überquellende Natur und seine Einwohnerschaft aus Indios und Schwarzen sind dabei wie eine Vorwegnahme ähnlicher Schilderungen in Max Frischs „Homo Faber“ (1957). Von Ruthern ist ein Adliger, dessen Familie nach dem Ersten Weltkrieg verarmt. Arm ist auch sein Gegenspieler Andreas Wirz aus Innsbruck. Nach einem wechselhaften Weg als Geliebter eines älteren Herrn und als Schmuggler an der italienischen Grenze hofft er, bei reichen Kurgästen als privater Skilehrer zu Geld zu kommen. So stark sein Wunsch nach sozialem Aufstieg auch ist – Wirz’ Hass auf die Reichen kommt ihm im Lauf seines Aufenthalts teuer zu stehen.

Schwarzenbach gelingt in „Flucht nach oben“ ein eindrucksvolles Gesellschaftsporträt in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und instabiler politischer Verhältnisse in Europa zu Beginn der 1930er-Jahre. Die Figuren sind Suchende, Irrende und Gescheiterte. Ist es in der „Lyrischen Novelle“ noch das flache bäurische Land, das zum Rückzugs- und Reflexionsort wird, verlagert sich in „Flucht nach oben“ die Fluchtregion mit den Schneebergen in einen im Grunde lebensfeindlichen, unwirtlichen Raum, der nur kurzzeitig Abhilfe leisten kann.

Unwirtlich ist auch der Raum, den die Ich-Erzählerin in „Tod in Persien“ aufsucht. Der 1935 im Iran entstandene und 1936 in der Schweiz überarbeitete Text behandelt Annemarie Schwarzenbachs Erlebnisse, die sie kurz zuvor bei Aufenthalten in dem damals von Reza Pahlawi despotisch regierten Land hatte. Nach der „Machtergreifung“ der Nazis entdeckte die Mittzwanzigerin den Orient und speziell den Iran als einen neuen Fluchtraum. Obwohl Schweizerin, entschied sich Schwarzenbach den Gegnern der Hitler-Regierung, unter denen sie viele Freunde hatte, in die Emigration zu folgen.

Der Orient regte Schwarzenbachs Fantasien wie die vieler anderer westlicher Intellektueller in jener Epoche an. Hier suchten sie, was ihnen in Europa zunehmend zu fehlen schien: Ruhe, Naturnähe und Einfachheit. Der Orient zog sie aber auch durch seine Geschichte an: Hier mischte sich die griechisch-römische Antike mit dem christlich-biblischen Altertum und dem islamischen Mittelalter mit den Erzählungen von „Tausendundeiner Nacht“. Schwarzenbach verfasste während ihrer mehrmonatigen Aufenthalte in Vorderasien zahlreiche Artikel, machte Fotos für Schweizer Zeitungen und Zeitschriften und half bei Ausgrabungen im iranischen Rhages und Persepolis.

In „Tod in Persien“ führt Schwarzenbach noch stärker als in der „Lyrischen Novelle“ vor, welch großes Talent sie für das Leiden hat – und dafür, dieses Leiden in Literatur zu verwandeln. Ihre Hauptfigur ist eine junge, stark depressive Frau, die eine englische Gruppe ins Lahr-Tal begleitet, das am Fuße des Bergs Damavand, nördlich von Teheran, liegt. Dort, wo sie das Gefühl hat, am „Ende der Welt“ zu sein, erinnert sich die Ich-Erzählerin ihrer Erlebnisse und Empfindungen während ihrer früheren Aufenthalte im Orient und der Sowjetunion. Besonders eindrücklich schildert sie, wie anstrengend und kraftraubend ihr das Leben im Iran erscheint – für sich selbst, aber auch für die Bewohner des Landes. Und sie reflektiert, warum sie ihr „,unpersönliches Tagebuch“ schreibt, obwohl es „eine furchtbare und wahrscheinlich fruchtlose Anstrengung“ ist. Ihre Reise in die Berge ist vor allem aber dem Versuch geschuldet, den Anfeindungen wegen ihrer Liebesbeziehung zur todkranken Jalé, der Tochter eines türkischen Diplomaten, aus dem Weg zu gehen.

Trotz seiner lesenswerten und der für Annemarie Schwarzenbach typischen Mischung aus reportageartigen Abschnitten und Dialogen im Stil ihres Vorbilds Ernest Hemingway und den lyrischen Naturpassagen ist „Tod in Persien“ letztlich ein unfertiges Produkt. Die Autorin selbst hat ihr Manuskript noch einmal überarbeitet und 1940 unter dem Titel „Das glückliche Tal“ veröffentlicht. „Tod in Persien“ ist spannend zu lesen, wenn auch die Partien, in denen ein Engel auftritt, stellenweise naiv und kitschig wirken. Schwarzenbach gewährt hier einen großen Einblick in ihr damaliges Liebes- und Arbeitsleben und in die Verhältnisse im Iran, der von Reza Pahlewi auf aggressive Weise verwestlicht wurde. Für Schwarzenbach-Kenner und -Forscher birgt der Roman darüber hinaus Informationen zu ihren Novellen, die erstmals 1989 unter dem Titel „Bei diesem Regen“ erschienen sind.

Die Sonderausgabe mit Annemarie Schwarzenbachs Romanen „Lyrische Novelle“, „Flucht nach oben“ und „Tod in Persien“ ist ein Gewinn – wenn auch mit Einschränkungen. So macht diese Zusammenstellung den persönlichen und literarischen Weg der Autorin von der Metropole Berlin bis in die Peripherie iranischer Berge gut nachvollziehbar. Bedauerlich ist aber, dass der langjährige Schwarzenbach-Herausgeber Roger Perret nicht die Gelegenheit genutzt hat, ein neues Nachwort zu schreiben oder auch nur eine Begründung zu geben, weshalb er diese drei Werke ausgewählt hat. Perret hat lediglich seine editorischen Notizen, die jedem der Romane in der Sonderausgabe nachgestellt sind, entweder unverändert oder gekürzt aus den früheren Einzelausgaben des Lenos Verlags übernommen. So ist zu wünschen, dass zumindest der zweite geplante Band mit Schwarzenbach-Romanen ein Nachwort erhält. Wann er erscheinen und welche Romane er beinhalten wird, stehe aber noch nicht fest, wie der Lenos Verlag auf Nachfrage mitteilte.

Titelbild

Annemarie Schwarzenbach: Romane. Lyrische Novelle, Flucht nach oben, Tod in Persien.
Lenos Verlag, Basel 2014.
429 Seiten, 15,80 EUR.
ISBN-13: 9783857874499

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