Enjoy the silence

Ein interdisziplinärer Tagungsband widmet sich dem reichhaltigen Repertoire an kulturellen Formen des Schweigens

Von Alina TimofteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alina Timofte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Forschung zum Vergessen hat in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung durch die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann wesentliche Impulse erhalten. Seit Langem überzeugen beide Wissenschaftler – gleich ob als Herausgeber oder als Autoren – mit ihrer herausragenden Fähigkeit, die theoretische Rahmung und die kulturellen Kontexte der jeweils gewählten Themenschwerpunkte so ins Licht zu rücken, dass die jeweils spezifischen Merkmale sich für die Leserinnen und Leser deutlich abzeichnen: Eine solche Lektüre bereitet sowohl Erkenntnis- als auch Lustgewinn. Das ist auch in dem gegenwärtigen Band, dem elften, vorläufig letzten Projekt des interdisziplinären Arbeitskreises „Archäologie der literarischen Kommunikation“, aufs Neue zu erleben.

Nur so viel zu dem im Jahre 1979 gegründeten Arbeitskreis: Wie auf der Homepage der Universität Heidelberg und in einem übrigens für wissenschaftliche Hausfrauen ohne institutionelle Anbindung durchaus motivierenden Aufsatz von Aleida Assmann nachzulesen, geht es im Sinne einer „Archäologie“ um „die Erschließung der Entstehungskontexte und Frühhorizonte des Literarischen“. Von Anfang an hat sich das Projekt zwischen zwei Polen entfaltet, einem grammatologischen und einem anthropologischen, und brachte im Laufe seiner bisherigen Existenz Vertreter aus allen Fächern der Geisteswissenschaften zusammen, die sich in ihren Arbeiten einer jeweils wechselnden thematischen Perspektive widmeten wie zum Beispiel Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Schrift und Gedächtnis, Kanon und Zensur, Text und Kommentar, Einsamkeit, Geheimnis etc.

Der hier zu besprechende Band ist aus einer Tagung im Oktober 2010 hervorgegangen, die wie alle anderen mittlerweile 16 Treffen an einem außeruniversitären Ort stattfand und von einer privaten Stiftung finanziert wurde. Mit dem Themenkomplex „Schweigen“ knüpft das Buch an Erkundungen zum Thema „Geheimnis“ an, die der Arbeitskreis 1997-1999 in drei Bänden unter dem Titel „Schleier und Schwelle“ ebenso im Verlag Wilhelm Fink veröffentlichte.

Betrachteten damals die Beitragenden das Thema unter dem Gesichtspunkt des Wissens und spielten in den Bänden über „Geheimnis“ die religiösen Aspekte des Schweigens, Verhüllens und Geheimhaltens eine zentrale Rolle, so steht diesmal die doppelte Korrelation „Schweigen und Vergessen“ sowie „Reden und Erinnern“ im Vordergrund, wie der Herausgeber Jan Assmann gleich in der Einführung deutlich macht. Zu begrüßen ist Assmanns Entscheidung, trotz bewusster Ausklammerung der religiösen Seite des Themas im vorliegenden Band, einige dieser Aspekte wenn auch nur „andeutungsweise“ in der Einführung zu erörtern. Dadurch wird dem Lesepublikum nicht nur ein Gefühl thematischer Kontinuität, sondern auch ein Verständnis von Komplementarität religiöser, politischer, sozialer und poetischer Aspekten des Schweigens vermittelt.

Der Band gliedert sich in vier unterschiedliche Sektionen, die insgesamt 14 auf Deutsch und Englisch verfasste Beiträge enthalten. Die Autorinnen und Autoren vereinigen vielerlei theoretische Ansätze und liefern einen umfassenden Einblick in das semantische Feld des Schweigens unter Beachtung einer breiten Palette von medialen Repräsentationen (Fotografie, Film, Literatur und Musik).

Für jeden, der in eigenen wissenschaftlichen Arbeiten kultursoziologische und kulturtheoretische Aspekte des Schweigens aufgreift, ist die Lektüre der im ersten Teil versammelten Beiträge unerlässlich. In der Rubrik „Anthropologische Grundlagen“ wird versucht, das weite Feld des Schweigens in möglichst breiten und eher theoretischen Perspektiven zu kartieren mit besonderer Berücksichtigung grundlegender Unterscheidungen zwischen willentlichem und erzwungenem Schweigen, verschweigendem Reden und redendem Schweigen sowie deren Äquivalenten im extralokutiven Bereich (etwa Verhüllen, Wegschauen, Trennen und Ausgrenzen).

Bereits im ersten „Geheimnis“-Band machte Alois Hahn in seinem Beitrag „Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten“ einen erhellenden Exkurs zum Thema „Geheimnis und Schweigen“, indem er vor einem kommunikationstheoretischen Hintergrund über Schweigeverbote und Schweigegebote, also über die Tabuisierung von Kommunikation zu sprechen kommt. In dem nun vorliegenden Beitrag „Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen“ befasst sich Hahn schwerpunktmäßig mit grundsätzlichen Aspekten einer Soziologie des Schweigens. Dabei betont er die soziale Konstruktion des Schweigens und argumentiert dafür, dass alle Gesellschaften über Regelungen verfügen, die mehr oder weniger verbindlich bestimmen, wer, wann, wo und gegenüber wem schweigen muss oder umgekehrt nicht schweigen darf. Solche bedeutsame und gruppenbildende „Schweigeordnungen“ gelten entweder in institutionellen Kontexten oder aber auch in Alltagssituationen. So kann Schweigen rechtlich verankert sein (zum Beispiel die Verschwiegenheitspflicht oder Schweigepflicht bestimmter Berufsgruppen sowie das Schweigerecht als Grundrecht des Beschuldigten), als unverzichtbare Voraussetzung in jedem Ritual integriert (zum Beispiel die Verweigerung des Heiligen vor dem profanen Uneingeweihten) oder aber auch als private Angelegenheit (zum Beispiel Schweigen und Verschweigen aus Scham, Takt oder schlechtem Gewissen).

Aleida Assmanns Aufsatz widmet sich unterschiedlichen Formen des Schweigens im Rahmen zwischenmenschlicher Kommunikation. Dabei kommen zwei Kategorien des Schweigens, „bedeutungsvolles“ und „strategisches“ Schweigen zur Sprache: Das eine will wortlos etwas mitteilen, das andere will etwas erreichen. Anhand von Beispielen aus der klassischen Weltliteratur, der sozial-politischen Geschichte Europas und der alltäglichen Verwaltungskommunikation beleuchtet die Konstanzer Wissenschaftlerin eine bunte Vielfalt einfacher und komplexer Fälle von Schweigekommunikation: zustimmendes, inniges, defensives oder trotziges, feiges und hilfloses, sozial tabuisiertes oder sakrales, opportunistisches, strafendes, repressives, komplizitäres und transformierendes Schweigen. Auch das Schreiben bewegt sich, wie Assmann zeigt, im Zwischenraum zwischen Reden und Schweigen und kann als besondere Form strategischen Schweigens gelten: literarische Texte sind ja nicht nur fiktional, sondern können als „künstlerische Formen der Verarbeitung“ ebenso Dimensionen von Zeugenschaft und Erinnerung annehmen. Darauf Bezug nehmend wandelt die Autorin Wittgensteins berühmtes Diktum ab: „Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schreiben“. Die theoretische Perspektive wird um den anregenden Beitrag von Jan Assmann ergänzt, der sich der entsprechenden Analyse der Sozialen Konstruktion des Schweigens am Beispiel der Kultur des Alten Ägyptens widmet.

Der zweite Teil des Bandes thematisiert soziale und politische Aspekte des Schweigens. Die drei Beiträge der Sektion kreisen um die Schwerpunkte Schmerz, Scham, Schuld, Trauma und vermeintliches Unbehagen als Auslöser von Schweigehandlungen in Bezug auf den Holocaust und die NS-Vergangenheit.

Der Historiker Marco Duranti räumt in seinem englischsprachigen Beitrag mit der allgemein verbreiteten Vorstellung auf, die 1948 in Paris verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen sei eine direkte Reaktion auf den Holocaust, und konstatiert ganz im Gegenteil ein weitgehendes Schweigen der Charta (sowie all ihrer früheren Entwürfe) hinsichtlich dieser beispiellosen Verletzung der Menschenrechte und Menschenwürde. Dies lässt sich für den Autor mehrfach begründen: Zunächst weist er auf die Emergenz der Menschenrechte in der unmittelbaren Nachkriegszeit als ein Normengefüge hin, das universelle Gültigkeit beanspruchte, also über ethnische, religiöse oder sprachliche Grenzen hinweg; so hätte der spezielle Bezug auf den Völkermord an den Juden dem universalistischen Charakter dieses weltpolitischen Projekts widersprochen. Weiter operieren seine Hypothesen mit Aleida Assmanns Gliederung des strategischen Schweigens in „komplizitäre“ und „transformierende“ Formen. Indem sich Duranti für die These stark macht, dass die Asylverweigerungspolitik und die Tatlosigkeit der Alliierten vor antisemitischen Handlungen (auch in inneren Kreisen) als klare Indizien von Mittäterschaft gelten können, demonstriert er dies an einem überraschenden Fallbeispiel: dem französischen Justizminister François de Menthon. Seine in einem vertraulichen Brief an René Cassin formulierte Empfehlung, die Denaturalisierungs-Gesetze der Vichy-Regime nicht abzuschaffen – also die Aberkennungsprozedur französischer Einbürgerung von Juden nach dem Ersten Weltkrieg weiterzuführen –, wurde zwar von Cassin und seinen Kabinettskollegen abgelehnt, zugleich aber von de Menthon verschwiegen, als er Jahre später als französischer Hauptankläger beim Nürnberger Prozess 1945/46 vor dem Gericht sprach.

Während Jeffrey K. Olicks Beitrag das Schweigen der Befragten thematisiert und am Beispiel des berühmten „Gruppenexperiments“ beleuchtet, das Theodor W. Adorno und die Kollegen der Frankfurter Schule nach ihrer Rückkehr aus dem amerikanischen Exil 1949/50 durchführten, setzt sich Birgit Schwelling in ihrem stark polemischen und sehr lesenswerten Beitrag mit einem neuen „Trend“ in der Debatte um die NS-Vergangenheit auseinander, der „den Abschied vom Paradigma der Erinnerung“ fordere. Dabei korreliert die Autorin Schweigen mit Vergessen. Mehrere breit rezipierte Publikationen des Jahres 2010 werden vor diesem Hintergrund einer kritischen Überprüfung unterzogen, wie die Aufsatzsammlung des Historikers Christian Meier, „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“, dessen Hauptbefund lautet: Seit den alten Griechen setzt die Welt nicht auf Erinnern, sondern auf Vergessen als das Heilmittel, mit einer schlimmen Vergangenheit fertig zu werden; der Text „Zur Zukunft der Erinnerung“ von Volkhard Knigge, Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, in dem er für einen „Abschied vom Paradigma der Erinnerung der moralischen Appelle, Pathosformeln und den gewohnten Formeln und Ritualen“ plädiert oder aber auch der Band „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ der Historikerin Ulrike Jureit und des Psychoanalytikers Christian Schneider, die scharfe Kritik an der deutschen Gedächtniskultur ausüben.

Schwelling identifiziert „ein bemerkenswertes Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlich legitimierten Befunden auf der einen Seite und politisch motivierten Thesen auf der anderen Seite“ und arbeitet zugleich argumentative Dissonanzen und Widersprüchlichkeiten sowie „unsaubere Begriffsverwendungen“ der drei genannten Texte heraus, um am Ende ihres Beitrags die Frage der Adaption wissenschaftlicher Konzepte in außerwissenschaftlichen Kontexten als dringendes Desiderat der Forschung zu formulieren. (Dass der Begriff der Erinnerungskultur in allem Munde sei und hierzulande immer öfter Gegenstand von Unbehagen und Unmut, veranlasste Aleida Assmann, mit ihrem 2013 bei C. H. Beck erschienenen Buch „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“zu intervenieren und die Genese dieses Begriffs zu rekapitulieren; vgl. Rezension in Literaturkritik).

Die dritte Sektion des Bandes befasst sich mit dem Spannungsfeld zwischen literarischer Ästhetik und Erinnerungsarbeit im Kontext traumatischer Erfahrungen und ihrer Artikulations- und Kommunikationsbarrieren. So erscheint Schweigen „nicht als Strategie, sondern als Symptom im Schatten des Traumas“, ein weiterer wichtiger Aspekt, den literarische Texte von armenischen, argentinischen, israelischen und deutsch-jüdischen Autoren beleuchten.

Kristin Platt nimmt literarische Annäherungen an Verfolgung, Gewalt und Völkermord in der Literatur der Westarmenier nach 1915 in den Blick. Im Zuge ihrer aufschlussreichen Betrachtungen zum literarischen Sprechen und Schreiben über den Völkermord von 1915/16 arbeitet die Autorin ein Schweigen besonderer Art heraus: Die fehlende Ausbildung eines literarischen Gedächtnisses bei den armenischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts wurde Platt zufolge durch mehrere bedeutungsvolle Faktoren wie den Referenzverlust individueller Zeugnisse, die fehlende soziale Anerkennung durch die intellektuelle Elite aus Istanbul oder Paris, den Bruch mit traditionellen Erzählungsmustern und nicht zuletzt die politische Nicht-Anerkennung durch die Türkei befördert.

Die anschließenden Beiträge widmen sich dem Schweigen der Dichtung in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Das intergenerationelle Schweigen thematisieren die Beiträge von Nina Fischer und Kirsten Mahlke mit jeweils unterschiedlichen Prämissen und Akzentsetzungen. Während Fischer sich anhand von David Grossmans Roman „Momik“ „mit den Auswirkungen des Schweigens der Überlebenden auf ihre nachgeborenen Kinder und den von Elementen des Schweigens durchzogenen Umgang mit dem Erbe des Holocaust in den frühen Jahren des Staates Israel“ beschäftigt, behandelt Mahlke die „Polyphonie des Schweigens“ im Roman „Lenta biografía“ des Argentiniers Sergio Chejfec: Der Sohn, der das dem Vater unmögliche Projekt seiner Autobiografie auf sich nimmt, macht das Fehlen einer kohärenzstiftenden Familien-Vorgeschichte und die überdimensionierte Erinnerung an Lücken zu einem besonderen Imaginationsraum, der sich ihm durch die Andeutungen nonverbaler und theatralischer Kommunikation mit Figuren und Ereignissen füllt.

Der dritte Teil endet mit Andreas Krafts Beitrag, der anhand der hermetischen Lyrik von Nelly Sachs das schützende Schweigen der Dichtung als „Teil eines Exorzismus des Schreckens“ untersucht. Mankos im formellen Bereich dürfen an dieser Stelle nicht verschwiegen werden. Als einziger unter den hier versammelten Beiträgen enthält Krafts Aufsatz einige den Lesefluss störende Disharmonien. Zum einen die fehlerhafte Codierung der Umlaute auf gut drei Seiten, umlautbare Vokale kommen mit Trema und als Digraphen vor: „[…] die Hoffnung auf Ueberwindung des Traumas durch psychotherapeutische Maßnahmen, das heißt der Therapeut hofft, dass sein Patient mit seiner Hilfe Worte finden kann, mit denen er die Unaussprechlichkeit zu ueberwinden vermag: damit wuerde das Thema aufhoeren Trauma zu sein“ oder: „Als Beispiel für diese Rezeption möchte ich hier auf die bereits 1970 erschienene Arbeit von Paul Kersten zurueckgreifen, die meines erachtens [sic!] bis heute in ihrer Analyse zu überzeugen weiss [sic!], da es ihm mit der Praezision seiner strukturalistischen Metaphernanalyse zu zeigen gelingt, wie die mystische Programmatik sich im poetischen Verfahren niederschlägt.“

Lassen die übrigen Beiträge im Falle von längeren Zitaten die Einrückung ohne Anführungszeichen und die Absetzung vom übrigen Text durch eine Leertaste und eine kleinere Schriftgröße als redaktionelle Richtlinien erkennen, so fand dies in Krafts Beitrag ungenügend Beachtung, wie die Nicht-Absetzung zweier längeren Zitate und deren Integration in den Lauftext auf Seiten 214 und 215 zeigt. Die vielleicht beste Formel des Beitrags („Exorzismus des Schreckens“) wird bedauerlicherweise von einer stilistischen Entgleisung überschattet: „Das Schweigen der Dichtung ist hier also auch Teil eines Exorzismus des Schreckens, der dem Autor beziehungsweise der Autorin helfen, das Ueberleben zu ueberleben [Hervorhebung der Rezensentin], das heißt nach dem erfahrenen Zivilisationsbruch nicht psychisch zusammenzubrechen“. All das kann man als Folgen von redaktionellem Ungeschick betrachten. Trotz der anregenden inhaltlichen Qualität hätte man sich jedoch eine sorgfältigere Bearbeitung und Prüfung des Textes vor der Veröffentlichung erwünscht.

Ebenso der Lyrik gewidmet ist der Beitrag von Manfred Schneider, der die vierte, letzte Sektion des Bandes eröffnet. Schneider beleuchtet den Unterschied zwischen Verstummen und Schweigen am Beispiel der Dichtung Heinrich Heines und kartiert die „Zonen des Schweigenmüssens“ in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau durch Integration erotischer, pädagogischer und politischer Dimensionen.

Im Vordergrund des besonders lesenswerten Beitrags von Jay Winter steht das fokussierte, zielgerichtete Schweigen, verstanden als Abwesenheit von herkömmlicher, konventioneller Kommunikation, als „non-speech act“ im Rahmen einer spezifischen sozialen Konstruktion. Im Zuge seiner kritischen Auseinandersetzung mit der gängigen, auch diesem Tagungsband zugrundeliegenden Korrelation „Schweigen und Vergessen“ wählt Winter einen topografischen Ansatz, demzufolge Schweigen eine Pluralität von Räumen jenseits der Worte und „unter der Oberfläche“ der konventionellen Rede darstellt. In diesem Sinne ist Schweigen nicht mit Löschen, sondern mit Hinterlegen („hidden deposits“) gleichzusetzen: „In this landscape we survey, silences are spaces either beyond words or conventionally delimited as left out of what we talk about. Topographically, they are there whether or not they come to the surface; and their re-emergence into our line of sight can occcasion a reiteration of the interdiction on talking about them or the end of the interdiction itself“. Dabei unterscheidet der Autor drei Arten kultureller Praxis des Schweigens im Zusammenhang mit Gewalt- und Kriegserfahrungen: das Schweigen im Rahmen von Trauer, Opfer und Erlösung in vielen religiösen Traditionen („liturgical silences“, das Schweigen als politischer Kompromiss im Interesse von Versöhnung und gemeinsamer Zukunftsgestaltung nach nationalen und transnationalen Gewaltkonflikten („political or strategic silences“, vgl. dazu die Beiträge von Aleida Assmann und Regine Elzenheimer im vorliegenden Band) und schließlich das Schweigen derer, die nicht über die Autorität des persönlichen Miterlebens verfügen („essentialist silences“). All diese Formen veranschaulicht Winter überzeugend an einer Fülle von Beispielen, die aus verschiedenen Epochen, Kontinenten und Kulturräumen stammen.

Die Beiträge von Jan Suk und Regine Elzenheimer gehen abschließend auf Semantiken und Signifikanten des Schweigens im zeitgenössischen Theater ein. Ihren gemeinsamen Ausgangspunkt finden sie in dem berühmten Stück „4’33’’“ von John Cage (bei dem ein Pianist den Deckel eine Flügels öffnet, um ihn ohne eine Taste berührt zu haben nach 4 Minuten und 33 Sekunden wieder zu schließen). In Suks Untersuchung paart sich dies mit Vorbemerkungen zu dem erfolgreichen Single „Enjoy the silence“ der britischen Pop-Band Depeche Mode sowie zu Marcel Duchamps „Air de Paris“ (ein leeres, mit „Pariser Luft“ gefülltes Reagenzglas), um am Beispiel des Stückes „Bloody mess“ der experimentellen britischen Theatergruppe Forced Entertainment (2004) das Schweigen als radikale Verweigerung von Trennlinien zwischen Kunst und Alltag, Kunst und Nicht-Kunst hervorzuheben. Elzenheimer fokussiert hingegen in ihrem Beitrag auf die Ästhetik der Stille als Sprach- und Lautlosigkeit im zeitgenössischen Musiktheater und geht der Frage nach, „auf welch unterschiedliche Weise der Gesang im Musiktheater schweigen kann“, indem sie der Entwicklung von einer Rhetorik der Pause und des Schweigens hin zu einer musiktheatralisch konstitutiven Stille anhand eindrucksvoller Beispiele (Franz Schubert, Richard Wagner, Luigi Nono, Wolfgang Rihm und Helmut Oehring) nachspürt.

Insgesamt lässt sich als Fazit festhalten: Mit seinen durchweg ertragreichen und sich gegenseitig ergänzenden Beiträgen gelingt dem Band eine wenn nicht erschöpfende, doch gewiss umfassende Behandlung der Myriaden von kulturellen Praktiken des Schweigens. Zieht man einzelne Beiträge in Betracht, stechen Thesen hervor, die als einleuchtend, gut begründet und oft auch originell erscheinen. Nicht nur bietet der Band mit seinen anregenden konzeptuellen Überlegungen zahlreiche Anschlussstellen für vertiefende oder weiterführende Forschungen, sondern sensibilisiert die interessierten Leserinnen und Leser  zugleich für eine Optikerweiterung in der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung.

Literaturhinweise:

Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. München 2013.

Svenja Flaßpöhler: „Gibt es ein gutes Vergessen? Martin Walser streitet mit Aleida Assmann“ (phil. COLOGNE 2014). In: Philosophie Magazin, Nr. 5/2014, S. 37-41. 

Alois Hahn: „Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten“. In: A. Assmann und J. Assmann: Schleier und Schwelle I. Geheimnis und Öffentlichkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation V, 1. München 1997, S. 23-39.

Titelbild

Aleida Assmann / Jan Assmann (Hg.): Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation XI.
Wilhelm Fink Verlag, München 2013.
306 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770555420

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