Heine und die Folgen

Eine Neuausgabe der Schriften von Karl Kraus zur Literatur von Christian Wagenknecht und Eva Willms

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Karl Kraus (1874-1936) tut man sich heute schwer, und das nicht nur wegen der Entwöhnung zumal des jüngeren Lesepublikums, und nicht nur des deutschen, von Kritik und Satire – die längst von einem pseudo-ironischen Dauergeplänkel in den Medien weggespült wurden. Ähnlich im akademischen Bereich und seinem „Beliebigkeitszynismus“ (so der Historiker Thomas Welskopp 2014 in einer Studie über die aktuelle Geschichtswissenschaft); eine weithin herrschende Atmosphäre, die Jürgen Kaube unlängst treffend einen „streitunlustigen Indifferentismus“ nannte. Kraus jedenfalls ist in dieser schlechten Luft fast so schwer vermittelbar wie Nietzsche, den auch Kraus nicht mochte, weil er Heine zu nahe stand. Und Heine, vor allem seine „Folgen“ samt denjenigen, die ihm folgen, steht für alle Heillosigkeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er führt die Reihe der Negativfiguren an, mit Schiller, Bierbaum, Bahr, Werfel und Salten, Maximilian Harden (anfangs ein publizistischer Mentor), Benedikt und Békessy, Brod, Pfemfert und Kerr, Nietzsche und Freud und allen Literarhistorikern („also von Historikern, die in keinem Zusammenhang mit der Literatur stehen und darum nur Literarhistoriker heißen“, 1912), für die er später den wunderbaren Ausdruck „Literarhysteriker“ gefunden hat.[1].

Dagegen die Phalanx der Hausgötter und Lieblingsautoren: Shakespeare, der späte Goethe und Matthias Claudius, Nestroy, Raimund und Offenbach, Altenburg und Loos, auch Otto Weininger, Wedekind, Brecht und Else Lasker-Schüler (die er aber überhaupt nicht als expressionistische Lyrikerin wahrnimmt). Auffällig und nur allzu typisch für seinen Standpunkt und seine kulturkritische Strategie ist dabei, daß die Wortführer des Antisemitismus, Nationalismus und Protonationalsozialismus eigentlich gar nicht zur Negativfraktion gehören, sondern nur als etwas wie marginale Dummköpfe abgefertigt werden: Lanz von Liebenfels oder Gobineau und Treitschke, Karl Lueger in Wien oder auch der Heineverächter übelster Sorte, der Germanist Adolf Bartels, bei dem er anscheinend nicht einmal den Beifall von der falschen Seite fürchtete. „Herr Adolf Bartels, bekannt durch die germanische Ausdauer, mit der er an Heines Grab seine Notdurft verrichtet“, schreibt er 1907 beiläufig. Sein ganzer Hass, der ihn scharfsichtig machte für tausend Details, die er auf tausenden von heute kaum noch verständlichen Seiten ausbreitete, aber blind für die Hauptgefahren seiner Zeit, galt stattdessen den Assimilationsverweigerern unter den Juden, seiner Ansicht nach also den Zionisten, den Journalisten, Feuilletonisten und anderen sprachvergessenen Kulturzerstörern und dem bloß geschäftstüchtigen Rest. Dass Kraus, zumindest vor 1914, nicht vor den dürftigsten antifranzösischen Klischees zurückschreckt, die ihn in eine Reihe mit Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ stellen, ist dann auch kein Wunder.

Gegen Heine ist die erste große und prägnant formulierte Schrift gerichtet, an der schon fast alle Motive, Stoßrichtungen und Verfahren des „Fackel-Kraus“ ablesbar sind, die ihn bis zu seinem Tod im Jahre 1936 angetrieben haben, und „Heine und die Folgen“ (1910) ist zudem das erste und einzige Werk, das Kraus zuerst separat als Broschüre erscheinen ließ, in München, bei Albert Langen 1910 (eine 2. und 3. Auflage 1911), dem Verlag der Zeitschrift „März“ von Hermann Hesse und Ludwig Thoma und des „Simplicissimus“ seit 1896, mit dem Umschlagtitel nach dem Entwurf von Adolf Loos, ehe er es erst mehr als ein Jahr später im 13. Jahrgang der „Fackel“ abdruckte (F 329-330, vom 31. August 1911). Vorangegangen war der mündliche Vortrag in Wien im Rahmen seiner überhaupt ersten öffentlichen Vorlesung am 3. Mai 1910: „Das Programm dürfte enthalten: Gegen Heinrich Heine (Aphorismen zum Sprachproblem)“, liest man auf der 2. Einbandseite der „Fackel“ Nr. 300 vom 9. April 1910 in einem Hinweis auf die Vorlesung am Dienstag, dem 3. Mai, halb acht Uhr abends, im Festsaal des Ingenieur- und Architekten-Vereines im I. Bezirk, Eschenbachgasse 9. Dennoch dürfte der Text im Vergleich zum Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“ und einigen Zitaten und Aphorismen heute nicht mehr zu denen gehören, die von Karl Kraus noch präsent sind. Auch die berühmten Zitate daraus haben sich verselbständigt, und ihr Sound wird dem Text vielleicht gar nicht mehr zugerechnet: von Heine, dem deutschen Emigranten in Paris, „der der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, daß heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können“, oder: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat. Wie leicht wird man krank in Paris! Wie lockert sich die Moral des deutschen Sprachgefühls! Die französische gibt sich jedem Filou hin. […] Und die Himmelsleiter, die zu ihr führt, ist eine Klimax, die du im deutschen Wörterbuch findest: Geschmeichel, Geschmeide, Geschmeidig, Geschmeiß.“ Und so weiter.

Christian Wagenknecht, ehemals Neugermanist in Göttingen und Herausgeber der 20-bändigen „Schriften“ von Karl Kraus in den Suhrkamp-Taschenbüchern (1986-99), hat nun „Heine und die Folgen“ zusammen mit der ehemaligen Kollegin Eva Willms in einem Auswahlband mit weiteren 21 Schriften zur Literatur (und Literaturkritik) neu herausgegeben. Der Band ist bis auf ein paar Zeilen, wenigen neu hinzugefügten Titeln im Literaturverzeichnis und einem nicht sehr bekannten Foto von Kraus (um 1913) auf dem Schutzumschlag identisch mit der Textauswahl gleichen Titels, die Wagenknecht 1986 bei Reclam herausgegeben hat. Hinzugekommen sind nur 3 Texte: die Streitschrift „Die demolirte Literatur“ von 1897, die erste größere literaturkritische Polemik, zwei Jahre vor dem ersten Heft der „Fackel“, der Artikel „Salome“ (von 1903) über die Kontroversen um Oscar Wildes Hauptwerk, in der in der Tat entscheidende Themen auch seines schon damals einsetzenden Kampfes um die Sexualjustiz zur Sprache kommen, und „Ein Brief“, als ein glänzendes Beispiel für die „Briefe aus der Fackel“, die dann und wann aus gegebenem Anlass als Antworten an Leser oder als Repliken auf Artikel in anderen Presseerzeugnissen geschrieben und gedruckt wurden, in diesem Fall geht es um das rechte Verständnis von Aphorismen Peter Altenbergs (1913). Von den Beiträgen zu Kraus’ Sprachverständnis und „Ursprungs“-Metaphysik – von Sprachtheorie muss man nicht reden – ist der Text „Die Sprache“ (1932) erneut aufgenommen, der in der posthum erschienenen Sammlung gleichen Titels (1937) am Ende steht, im Gegensatz zu dem wieder enthaltenen, viel aufschlussreicheren „Der Reim“ eine ungeeignete, weil in seiner verknappten und auch verqueren Diktion kaum verständliche, oder nur in Kenntnis der früheren Texte verständliche Abbreviatur seines Denkens. Dieses scheint ohnehin in einigen Gedichten sowie auch schon in „Heine und die Folgen“ und überhaupt im Medium der Applikation auf bestimmte Gegenstände der Kritik, natürlich meist ex negativo, am ehesten nachvollziehbar. Sehr nützlich hingegen „Der Fall Kerr“ und das eigentliche Gegenstück zu „Heine und die Folgen“, „Nestroy und die Nachwelt“. Die Hauptschwäche des Bandes und wie schon in der Reclamauswahl ein Versäumnis sind neben dem überaus kurzen Nachwort die zwar zuverlässigen, aber viel zu knappen und dürftigen Kommentare – man muss das schon so sagen [2].

Vor allem „Heine und die Folgen“ ist nicht zureichend verständlich, wenn man den Text nicht entschieden auf die für den Autor maßgeblichen Kontexte bezieht, in denen der „unversöhnliche Strafprozeß gegen Heinrich Heine“ (Goltschnigg) zu sehen ist, der gewiss nicht nur diesem selbst gilt, und diese Kontexte müssen in einer solchen Ausgabe eben in der gebotenen Deutlichkeit zum Thema des Kommentars gemacht werden. Zu nennen sind hier wenigstens drei solcher Kontexte oder Antriebsmomente der Kritik: (1) die zusammen mit dem befreundeten Architekten und Kunstkritiker Adolf Loos propagierte rabiate Stilkritik unter dem Schlagwort des Kampfes gegen das Ornament, der gegen den Makartismus ebenso wie gegen die Wiener Secession und den Jugendstil gerichtet war (Vortrag von Loos: „Ornament und Verbrechen“, 1908): „Der Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament […] entspricht die Durchsetzung [betont auf der 2. Silbe] des Journalismus mit Geisteselementen, die aber zu einer noch katastrophaleren Verwirrung führen mußte“, heißt es in „Heine und die Folgen“; (2) die im Laufe des ersten „Fackel“-Jahrzehnts erarbeiteten Aspekte eines sprachkritischen Hintergrunds für die Auseinandersetzung mit Journalismus und Literatur, und (3) die immer schärfer hervortretenden Probleme einer Kritik an einzelnen Orientierungen des Judentums, die schon bald, etwa 1930 von Theodor Lessing und bis heute, unter die Kategorie des „jüdischen Selbsthasses“ subsumiert wurden [3].

Gewiss hängt von Kommentaranhängen und Nachworten in Auswahlausgaben nicht die lebendige Kraus-Rezeption in breiteren Leserschichten ab, mit der es, wie man vermuten darf, nicht zum Besten steht. Ein Band mit Kraus’ Schriften zur Literatur in der respektablen, von Friedrich Pfäfflin herausgegebenen Reihe der „Bibliothek Janowitz“ des Wallstein -Verlags hätte jedoch etwas Besseres verdient als die kommentarlose Wiedervorlage eines Reclambändchens von 1986.

Anmerkungen:

[1] Prominent erst in der letzten „Fackel“ 917-22, Febr. 1936, S. 106.

[2] Auch auf die nicht zahlreichen, aber ausführlichen neueren Untersuchungen zu „Heine und die Folgen“ wird nicht einmal in den Literaturangaben hingewiesen, vgl. besonders Dietmar Goltschnigg: Die Fackel ins wunde Herz. Kraus über Heine. Eine ‘Erledigung’? Texte, Analysen, Kommentar. Wien: Passagen Verlag 2000, und Ruth Esterhammer: Kraus über Heine. Mechanismen des literaturkritischen Diskurses im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. Vgl. auch die erste ernsthafte Studie zum Thema von Mechthild Borries: Ein Angriff auf Heinrich Heine. Kritische Betrachtungen zu Karl Kraus. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1971, eine bei Walter Müller-Seidel in München entstandene Dissertation von 1969, die noch immer mit Gewinn lesbar ist, nicht zuletzt auch als fachgeschichtliches Dokument.

[3] Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Berlin: Jüdischer Verlag 1930. Neuausgabe, mit einem Vorwort von Boris Groys, Berlin: Matthes & Seitz 1984, 2004 (zu Kraus dort S. 72 f.). Dieser ganze Komplex der Heine- und Kraus-Kritik wird hier ausgespart, ebenso wie die noch weitaus bedeutsamere Heine- und Kraus-Interpretation durch Walter Bejamin (Kraus-Essay von 1931) und Theodor W. Adorno („Die Wunde Heine“, in: Noten zur Literatur I, 1958; „Sittlichkeit und Kriminalität. Zum elften Band der Werke von Karl Kraus“, in: Noten zur Literatur III, 1965, und – als Einschränkung sehr wichtig – der Aphorismus „Juvenals Irrtum“ (über die Satire heute) in: Minima Moralia 1951, Teil III, S. 134).

Titelbild

Karl Kraus: Heine und die Folgen. Schriften zur Literatur.
Herausgegeben und kommentiert von Christian Wagenknecht und Eva Willms.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
464 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783835314238

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