Sehnsuchtsziel Ungargasse

Als Leserin Ingeborg Bachmanns muss man nicht unbedingt dorthin, wo ihr Roman „Malina“ spielt

Von Marita WiedeckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marita Wiedecke

Von dieser Grundlage bewege ich mich fort: Wenn jemand eine Reise an den Ort seiner Wahl unternimmt, wenn für jene Person dieser Ort und die Auseinandersetzung mit ihm von Bedeutung sind, wird sie, dort angekommen, nicht wahllos umherirren. Sie wird die Plätze am Reiseziel aufsuchen, von denen sie glaubt, dass ihre Erkundung diese Bedeutung bestärken oder vertiefen kann. Vor dem Antritt einer Reise, die beispielsweise in eine beliebige Stadt in Europa führen könnte, liegt oft noch im Unklaren, ob das eine oder andere für die eigene Person von Belang sein könnte. Anders ist es jedoch, wenn diese Stadt über einen gesonderten Ort verfügt, der das eigentliche Sehnsuchtsziel darstellt. Dann kann ein großer Raum sogar auf einen einzigen Punkt zulaufen, der die Konnotation des gesamten Ortes bestimmt. Er nimmt alles „Land“ für sich ein. Das mag so weit gehen, dass jemand von einem Sonnenplatz unter Palmen am Strand träumt, während der eigentliche Raum, zu welchem dieser Strand gehört, nicht existent ist und in der Vorstellung auf ein paar Quadratmeter Liegefläche zusammenschrumpft. Im Gedächtnis bleibt nur dieses Bild vom Meer vor dem weißen Sandstrand und der untergehenden Sonne.

Ich träume hier nicht von einem pittoresken Strandbild. Hier ist der große Raum die Stadt Wien, der Sehnsuchtspunkt die Ungargasse in deren 3. Bezirk und dies ist die Reise: Ich bin nach Österreich gefahren und habe Wien besucht. Wien als die Stadt der Ungargasse, in deren Nachbarschaft Ingeborg Bachmann einst lebte, über die sie schrieb. Vielmehr aber eigentlich Wien als einen fiktiven Raum, in dem es eine andere Ungargasse gibt, in der sich letztlich nur die Wege von drei Romanfiguren kreuzen oder aneinander vorbeilaufen; die Hauptcharaktere aus Bachmanns Werk Malina. Somit habe ich mich die ganze Zeit über auf einen Punkt zubewegt, jedoch nicht in Richtung seiner geografischen Grundlage. Denn ich war zwar in Wien, aber ich habe die Ungargasse nie gesehen.Ich habe mir stattdessen andere Orte Wiens angeschaut. Ich war eine Touristin im Schloss Schönbrunn, eine Studentin in der Mensa der Universität und eine literarisch Interessierte auf den Stufen der Strudlhofstiege. Vor allem dort war ich die Rechercheurin, die ich sein wollte, denn ich war auf den Spuren eines Romans. Ich habe die Realität über das Muster von Doderers gleichnamigem Werk gelegt oder vielmehr andersherum kritisch die Literarizität der Wirklichkeit abgeschätzt. Vergeblich habe ich das Laub auf den Stiegen gesucht, wie Doderer es diesem Ort andichtete. Sagt es mehr über diesen Ort oder über mich aus, wenn mir von der Strudlhofstiege am stärksten dieses Gedicht, zu Ehren Doderers eingemeißelt in eine Steintafel als neuester Teil des Treppenkonstrukts, in Erinnerung bleibt?

Und ich war eine Beobachterin in Wien, ich habe ankommende und abfahrende Straßenbahnen gesehen. Auch habe ich mich von den sich mischenden Rosendüften im Volksgarten betören lassen. Ich war passiv und habe mich doch aktiv im Raum bewegt. Wie eine planende Person auf der Suche nach möglichen Tageszielen habe ich eine Straßenkarte vor mir ausgebreitet und „bedeutungstragende“ Orte markiert. Nur nicht die Ungargasse, den Raum Wiens, der für mich den Räumen Wiens Bedeutung gibt. Warum? Vielleicht, weil auch er auf der von Ingeborg Bachmann entworfenen anderen, fiktionalen Landkarte liegt, deren utopische Orte „wahrer, viel wahrer“ als die Wirklichkeit gezeichnet sind, wie sie es selbst in ihrer IV. Frankfurter Vorlesung ausdrückt. Sicher hätte ich die wirkliche Bewegung nachvollziehen können: Meine Finger waren auf der Landkarte, dort hätte sich auch die „Ungargasse“ gefunden, eine Fingerspitze weit weg vom Musikverein. Ich hätte am Westbahnhof in die U-Bahnlinie U3 einsteigen und bis zur Haltestelle Rochusgasse fahren können, von dort wäre es nicht mehr weit gewesen. Ich weiß, ich hätte das richtige Straßenschild unter den vielen Schildern Wiens entdeckt. „Ungargasse“ hätte darauf gestanden. Wahrscheinlich wäre ich sogar auf zwei Häuser mit den Nummern 6 und 9 gestoßen, die Nummern der Gebäude, in denen im Roman die Ich-Erzählerin und Malina (Nr. 6) und Ivan (Nr. 9) wohnen. Sie hätten weiß, gelb oder rot sein können, klein oder geräumig. Möglich, dass ich durch ein verschliertes Glas in eine fremde Wohnung hätte blicken können, für einen Moment. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich wäre, dass dahinter eine blonde Frau auf und ab geht oder Briefe schreibt. Vielleicht stehen dieses Haus Nr. 6 und das Haus Nr. 9 ganz dicht aneinander, es kann aber auch sein, dass die Distanz von einem zum anderen groß ist. Viel Distanz liegt in jedem Fall zwischen der Beschreibung und der Realität: So wenig, wie ich dieses schmale, klobige, rot und gelbe, verwischte Haus in der tatsächlich aufsuchbaren Ungargasse finden würde, findet sich auch in dieser Ungargasse die andere Ungargasse nicht: Denn „reisen wir – wir werden nicht ankommen, dort waren wir schon immer oder noch nie“ (Bachmann: Frankfurter Vorlesung IV). An diese beiden Pole scheine auch ich gebunden zu sein. Es gibt für mich eine Sehnsuchtsstraße in Wien, aber ich versuche sie nicht zu sehen. Denn ich erreiche nur ihren Nicht-Ort; denjenigen, an welchem sie sich nicht befindet, indessen ebenso den literarischen außerhalb der Realität. So ist es auch möglich, suchend nicht zu suchen und sich nach Wien aufzumachen, ohne den Wunsch zu haben, die Ungargasse zu sehen – auch wenn ich sie sehen wollte, auch wenn ich sie sehen würde.

Dennoch war ich auf der Strudlhofstiege und ich war im Stadtpark und im Musikverein und in der Ungargasse: nicht. „Aber andererseits: auf allen unseren Fahrten, wo sind wir wirklich gewesen? Im Bordell von Dublin und auf dem Blocksberg, auf den finnischen Gütern des Herrn Puntila und in den Salons von Kakanien – dort waren wir vielleicht wirklich“ (Bachmann: Frankfurter Vorlesung IV). Ich war in der Ungargasse.