Mütterliche Begleiter

Frank Krause beleuchtet Mütterlichkeit unter Geliebten und KameradInnen in deutsch- und englischsprachiger Literatur der Zwischenkriegszeit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren macht in Literatur- und Kulturwissenschaft das von Christine Kanz geprägte Wort der Maternalen Moderne die Runde. In ihrem gleichnamigen Buch bezeichnet die Germanistin so die Zeit um 1900. Auch Frank Krause greift den Topos der Maternalen Moderne in seinen „Zeitdiagnosen über Genderkrisen in deutscher und englischer Prosa“ der Jahre 1918 bis 1933 auf. Sein Interesse gilt dabei der titelstiftenden Literarisierung von „Mütterlichkeit unter Geliebten und Kameraden“.

„Mütterliche Begleiter“ werden dem Autor zufolge in der deutschen und englischen Literatur des Untersuchungszeitraums „vor allem als helfende Begleiter“ konstruiert, „die zeitgeschichtlich bedeutsame Grundlagenkrisen erwachsener Genderidentitäten abfedern“. Dabei „konkurrieren“ die beiden Konzepte der kameradschaftlichen Mütterlichkeit und derjenigen unter Geliebten „um den Anspruch“, „die genderhistorisch maßgebende Bedeutung spezifischer Figurentypen herauszuarbeiten“. Zudem unterscheide sich die literarisierte Mütterlichkeit zwischen Geliebten von der kameradschaftlichen dadurch, dass die Texte sie als „als eine Form der Sorge“ ausgelegen, „die den Anderen als Unselbständigen dergestalt bejaht, daß problematische Abhängigkeiten verstärkt werden“. Mütterliche KameradInnen werden Krause zufolge hingegen „tendenziell“ als „kompetente Krisenhelfer“ gestaltet. Der „entscheidende Unterschied“ zwischen den literarischen Gestalten mütterlich Liebender einerseits und dem mütterlichen Kameraden andererseits aber ist sexueller Art. Denn „während sexuelle Beziehungen zu mütterlichen Geliebten zumindest aus heteronormativer Sicht auf die Bejahung problematischer Abhängigkeiten hinauslaufen, ist Mütterlichkeit unter heterosexuellen Kameraden in einem homosozialen Verband von solchen Bindungseffekten entlastet.“

Die mütterliche Sorge in einem kameradschaftlichen Verhältnis diene der „unterstützenden Absicherung von Selbständigkeit“ des oder der anderen. Damit ist sie Krause zufolge „mit einem mütterliebenden Eingehen auf den emotionalen Eigensinn kindlicher Lebensformen ursprünglich nicht vereinbar“, wie er etwas umständlich formuliert. Mütterlichkeit zwischen KameradInnen sei nicht nur von Sexualität, sondern auch „von der Mutterliebe im modernen Sinne prinzipiell entkoppelt“. Sie erfülle vielmehr eine „Reihe von Funktionen“ die „auf hausfrauliche und pflegerische Dienstleistungen im Rahmen familialer Haushalte und vergleichbarer Institutionen verweisen.“

Entspringe die „Pflicht zur Sorge“ des mütterlichen Parts in Beziehungen zwischen Geliebten der „wechselseitigen Neigung“, so erwachse die „Neigung zur Sorge“ mütterlicher KameradInnen gegenüber dem oder der anderen aus „geteilten Pflichten“. Mütterliche Geliebte und mütterliche KameradInnen erweisen sich „aus problemgeschichtlicher Sicht“ demnach als „komplementäre Figurentypen“, zumal die SchriftstellerInnen in beiden Fällen „nach den Bedeutungen einer freiwilligen mütterlichen Sorge“ fragen, „die der Bewältigung von Krisen erwachsener Genderidenitäten gilt“.

Krauses Argumentation ist soweit durchaus nachvollziehbar. Befremdlich allerdings ist dass ihm die „freiwillige mütterliche Sorge“ unter der Hand zur „freiwilligen Mütterlichkeit“ mutiert. Denn beides sind völlig unterschiedliche Kategorien, während das Konzept der mütterlichen Sorge auf eine Form des Fühlens und Handelns zielt, bezeichnet Mütterlichkeit eine Eigenschaft. Die Rede von der freiwilligen Mütterlichkeit insinuiert nun, dass es auch eine unfreiwillige gebe, um die – so ist das wohl zu verstehen – biologische Mütter nicht umhinkommen, während Mütterlichkeit von anderen Frauen und Männer frei gewählt werden kann. Die Assoziation zum ominösen ‚Mutterinstinkt‘, dem Mütter angeblich unterworfen sind, ist da bedenklich nahe.

Krause gliedert seine Studie in drei Teile, deren erster die „wichtigsten historischen Bedingungen und Vorläufer“ des Untersuchungsgegenstandes vorstellt, während der letzte zunächst „aus dem historischen Abstand der Gegenwart“ nach der „Aktualität“ der beiden Mütterlichkeitskonzepte in der vorgestellten Literatur fragt und schließlich deren „kulturelle und fachliche Aktualität“ betont. Im Zentrum aber steht der zweite Teil, in dem Krause „das geschichtliche Novum der Figurentypen“ des Untersuchungszeitraums ausweist und die Mannigfaltigkeit der in ihnen „ausgeloteten“ Fragen aufzeigt. Diesen zweiten Teil fächert der Autor noch einmal in die Kapitel „Mütterliche Geliebte als Krisensymptome“ und „Mütterliche Kameradschaft als Krisenkompetenz“ auf. Im ersten der beiden Unterabschnitte analysiert Krause Rebecca Wests Roman „The Return of the Soldier (1918), Bess Brenck Kalischers „Die Mühle“ (1922), dessen Untertitel den Text als „Eine Kosmee“ ausweist, D. H. Lawrence’ „Lady Chaterley’s Lover“ (1928) und Hanns Henny Jahnns „Perrudja“ (1929). Im Zentrum des zweiten Unterabschnitts stehen Hermann Hesses „Demian“ (1919), Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927), Eric Maria Remarques Erfolgsroman „Im Westen nichts Neues“ (1929) und „Not so quiet… Stepdaughter of War“ (1930) von Evadne Price.

Gerade die Analysen der weniger bekannten Werke erweisen sich als besonders interessant. Dies gilt vor allem für Bess Brenck Kalischers „Die Mühle“, wobei Krauses Vergleich zwischen den Bezugnahmen ihres Textes auf den sich als Matriarchatsverfechter gerierenden Psychoanalytiker Otto Gross mit denjenigen von D. H. Lawrence in dessen erst postum erschienenem Manuskript „Mr. Noon“ heraussticht. Wie Krause zeigt, „kommen“ auch in Brenck Kalischers Text „Ideen von Gross ins Spiel, die bei Lawrence zu entwerten sucht“. Dabei sind die Ansichten der beiden SchriftstellerInnen über die „legitime Reichweite mütterlicher Einstellungen“ nahezu diametral entgegengesetzt, oder gehen doch „weit auseinander“, wie Krause etwas zurückhaltender formuliert. Zwar lassen beide AutorInnen „Männer, die Frauen einfühlend verstehen und für deren psychischen Probleme empfindlich sind“, auftreten, doch werden sie bei Lawrence anders als bei Brenck Kalischer „gerade nicht als heilige Retter gefeiert“.

Sind Krauses Analysen und Interpretationen weitgehend nachvollziehbar ja überzeugend, so gilt das nicht immer im gleichen Maße für Themen, die er eher beiläufig berührt. Über die unkritische, ja implizit positive Darstellung der berüchtigten „aktions-analytischen Kommune“ Otto Mühls im letzten Teil des Buches kann man gar nur den Kopf schütteln. Mühl hatte sie in den 1970er-Jahren bei Wien gründete. Krause erklärt nun, Mühls AA-Kommune, wie sie kurz genannt wurde, habe sich „im Rahmen vergemeinschafteter Lebensformen mit therapeutisch-künstlerischen Mitteln um eine Befreiung gesellschaftlich unterdrückter sexueller Energien bemüht“. Zudem, so Krause weiter, „rücken die Sexualpartner in der Kommune, die das Aufkommen exklusiver Paarbeziehungen verhindern wollte, in die Nähe von Genossen, die einander verbunden sind, weil sie gemeinsam am Projekt einer sexuellen Erfüllung ohne Ansprüche auf Verfügung arbeiten“. Vor allem aber hätten sie eine „gelassenere Beziehung zur Entdifferenzierung von Elterlichkeit und Sexualität“ gehabt als Otto Gross und Bess Brenck Kalischer zu Beginn des Jahrhunderts. Tatsächlich aber prägten Misogynität, sexuelle Nötigung, Kindsmissbrauch, Vergewaltigung und Gehirnwäsche immer stärker das Leben der in den 1980er-Jahre nicht weniger als 600 BewohnerInnen der AA-Kommune, wofür Mühl Ende des Jahrzehnts zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Bei Krause von alldem kein Wort.

Abschließend greift der Autor noch einmal „Kanz’ These von der Mütterlichkeit als Signatur der kulturellen Moderne“ auf, deren „heuristische Bedeutung“ er durch die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchung einmal mehr bestätigt sieht. Es sei davon auszugehen, „dass die von Kanz konstatierte Mutteridealisierung in der Moderne in der deutschen und englischen Literatur kulturspezifisch unterschiedliche Reaktionen hervorruft“, deren „konkrete Gestalt“ allerdings „erst noch zu ermitteln“ sei. Eine der Aufgaben, der sich Litertatur- und Kulturwissenschaft zweifellos über kurz oder lang zuwenden werden.

Titelbild

Frank Krause: Mütterlichkeit unter Geliebten und Kameraden. Zeitdiagnosen über Genderkrisen in deutscher und englischer Prosa (1918–1933).
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014.
248 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783847101659

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