Radikaler Pazifismus

1915/16: Über die Bände 4 und 5 der Tagebücher Erich Mühsams

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Juni 1915. Während der Kleine Krieg dort draußen bald ein Jahr alt ist, geht der Große Krieg schon in sein fünfzehntes Jahr. Noch immer heißt es: „von Lübeck nichts Neues“. Und dennoch scheint das Ende nun wirklich nah, denn Erich Mühsams „rücksichtslosester und gefährlichster Feind“ liegt im Sterben. Der Feind, das ist der Vater, der sich eisern weigert, seinem missratenen Sohn sein Anarchisten- und Künstlerleben voller Schulden und gescheiterter Pläne zu finanzieren. Doch während der Sohn dem Vater ein schnelles Ende wünscht und seinem Erbe entgegenfiebert, beginnt Siegfried Mühsam, der angesehene Lübecker Apotheker und Chemiker, vom Sterbebett aus und vermutlich nur noch eingeschränkt Herr seiner Sinne, seinen letzten verzweifelten Angriff, um der Bürgerlichkeit doch noch zum Sieg zu verhelfen.

Eigenmächtig annonciert er am 5. Juni 1915 in der „Pharmazeutischen Zeitung“: „Welcher allein arbeitende Kollege in einem kleinen deutschsprachigen Orte wäre bereit, einen Apothekergehilfen, der bereits über ein Jahrzehnt den Beruf nicht mehr ausübt und ihm vollständig entfremdet ist, wieder in die praktische Tätigkeit einzuführen, so daß er eine Gehilfenstelle ohne Defektur bekleiden kann? Ein angemessenes Honorar für Verpflegung und Mühewaltung wird gern bewilligt. Über die Dauer seiner Ausbildungszeit werden wir uns leicht verständigen, da er sich gut einarbeiten soll; ebenso über die dem Kollegen zu gewährende Entschädigung. Angebote an den Vater des jungen Mannes, den Apotheker S. Mühsam in Lübeck.“

Wie Ulrichs Vater in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ will Siegfried Mühsam noch über das Grab hinaus den Sohn dem väterlichen Gesetz verpflichten. Der „‚junge Mann‘ bin ich mit meinen 37 Jahren!“, kommentiert Erich Mühsam in München fassungslos-grimmig in seinem Tagebuch. Es ist der letzte bizarre Höhepunkt dieses wohl selbst für die expressionistische Generation bemerkenswerten Vater-Sohn-Konfliktes – wenige Wochen später, am 20. Juli, ist der Tag da, den Erich Mühsam, wie er es sieht, aufgrund der unerbittlichen Haltung des Vaters gezwungenermaßen seit Jahren immer wieder im Tagebuch herbeigesehnt, ja -gefleht hat: Sein Vater ist tot, und Erich Mühsam dank des ihm zustehenden Pflichtteils (denn die Enttäuschung des Vaters war so groß, dass er seinen Sohn zum Schluss noch enterbt hat) zumindest fürs erste aller finanziellen Sorgen ledig.

Die Bände 4 und 5 der großen Erich-Mühsam-Tagebuch-Edition im Berliner Verbrecher Verlag enthalten jene Hefte des Anarchisten, die in den Weltkriegs-Jahren 1915 und 1916 entstanden sind. Der Anarchist ist seit Kriegsausbruch in München weitgehend isoliert. Viele Bekannte und Freunde sind an der Front oder bereits gefallen (akribisch bedenkt Mühsam jeden neuen Kriegstoten mit einem Nachruf, zu den bekanntesten Namen gehören der Maler Franz Marc und der Dichter Peter Baum). Die, die noch da sind, haben sich in „Patridioten“ und „Privatstrategen“ verwandelt, die dem notorischen Kriegsgegner an den Kneipptischen oder auf der Kegelbahn nicht immer wohlgesonnen sind („Maaßen schmiß mich mit einem Trinkglas, wobei mein Kneifer in Trümmer ging“.).

Und in seinen pazifistischen Kreisen hat Mühsam mit seiner fatalen, meist auch noch falsch zitierten Erklärung über die Einstellung seiner Zeitschrift Kain nach Kriegsausbruch seinen moralischen Kredit verspielt. Auch ein knappes Jahr später muss er noch Angriffe der einstigen Gesinnungsgenossen, etwa in Franz Pfemferts „Aktion“, über sich ergehen lassen („ich will nicht länger auf den verfluchten Satz mit den fremden Horden festgelegt sein“). Im Übrigen gilt er als Edelanarchist, den außer Heinrich Mann, mit dem er sich immer öfter unterhält, keiner so recht ernstnehmen will: Es werden „schon Wetten darüber abgeschlossen, ob ich nach Empfang der Erbschaft noch Anarchist bleiben werde“.

Zur Untätigkeit verdammt, demonstriert er im Tagebuch ersatzweise einen nach seiner anfänglichen Verwirrung bei Kriegsausbruch nun radikalen Pazifismus, der keine Deutschen mehr, sondern nur noch Menschen, Individuen kennt: „Der Seekrieg gegen England soll einen Truppentransport von 2000 Soldaten zum Opfer gefordert haben. Großer Jubel über den Tod so vieler armer Teufel. Die Leute rechnen alle: 1 x 2000. Meine Rechnung: 2000 x 1 verstehn sie nicht.“ Neben dem Vater ist der Krieg sein Gegner und gut ist alles, was ihn beendet. Mühsams Radikalpazifismus lässt ihn auf die eskalierenden Nachrichten vom „Bluttheater“ wie den Einsatz von Giftgas oder die Bombardierung von Städten aus der Luft mit provokativer Gelassenheit reagieren: „Entweder gar kein Krieg oder jede Sauerei!“, lautet seine Devise. Die Empörung vieler Zeitgenossen über einzelne Kriegsauswüchse ist aus Mühsams Sicht wenig mehr als scheinheilig: „Ludwig Scharf, der verflossene revolutionäre Dichter, hat mir […] gestern noch erklärt, er bejahe den Krieg aus vollem Herzen, wenn er auch die Greuel nicht billige. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß. Kürzer: Morde human!“

Das Tagebuch, in den Vorkriegsjahren der begierig lauschende Komplize des Schwerenöters und Schelms, wird in diesen Jahren der Zensur und Denunziation zum Ort der Selbstversicherung und zum überlebenswichtigen Ventil. Nur hier kann er sich – im psychoanalytischen Sinn – „abreagieren“, wie er mehrmals schreibt. Und versuchen, einen Blick von der tatsächlichen Kriegslage zu gewinnen. „Die Nachrichten von den Kampfstädten lauten wie immer: überall siegen alle“. Treffend nennen die Herausgeber der Tagebuch-Edition, Chris Hirte und Conrad Piens, Mühsams Aufzeichnungen eine in ihrer Subjektivität und ihrem Detailreichtum einmalige „Weltkriegschronik“. „Es ist überall das gleiche: was man selbst tut, ist edel, würdig, schön, patriotisch, loyal, erhaben. Tut der Gegner dasselbe, so handelt er schäbig, gemein, völkerrechtswidrig und in jeder Weise verbrecherisch.“

Mühsam, der täglich vier Zeitungen liest, der in den Kaffeehäusern mit Fronturlaubern und Verwundeten spricht und jedes aufgeschnappte Gerücht, jede Meinung notiert, kommt kaum hinterher mit seiner „täglichen Tagebuch-Registratur“, der Suche nach der objektiven Wahrheit hinter all den frisierten Nachrichten. Er analysiert und kommentiert die Entwicklungen auch auf entfernten Kriegsschauplätzen wie den Dardanellen oder am Isonzo, den Völkermord an den Armeniern oder die internationale Debatte über den uneingeschränkten deutschen U-Boot-Krieg, dem immer wieder Passagierschiffe wie die Lusitania zum Opfer fallen.

Früher als die meisten seiner deutschen Zeitgenossen ahnt Mühsam, was ein Kriegseintritt der USA für die Mittelmächte bedeuten würde. Während an den Stammtischen vom Siegfrieden und deutschen Annektionen geträumt wird, ist für Mühsam das Ende des Krieges längst nur noch durch die „gänzliche Erschöpfung aller Beteiligten“ denkbar. Was die Kriegsschuldfrage angeht, so nimmt Mühsam die Position Fritz Fischers vorweg: Die Einkreisung Deutschlands durch die Entente betrachtet er als Folge der Aufrüstungspolitik und Drohgebärden des deutschen Kaisers, und der Kriegsausbruch sei von der deutschen Regierung „inszeniert und begonnen“ worden – derselben, die nun mit ihren Annektionsplänen jede Aussicht auf Frieden verhindere.

Seine in den Tagebuchheften praktizierte Medienobservation, einer Art Watchblog avant la lettre, macht nachdrücklich auf die fatale Rolle der Presse in den Weltkriegsjahren und ihre Techniken der Meinungsmanipulation aufmerksam. Immer wieder werden in den Redaktionsstuben unliebsame Zahlen von Gefallenen oder Gefangenen durch „Druckfehler“ entschärft; Meldungen aus ausländischen Quellen mittels eingeklammerter Ausrufezeichen als fragwürdig gekennzeichnet: „Also: Reuter (!) meldet, Havas (!) berichtet, die ‚Times‘ (!) schreiben, der ‚Figaro‘ (!) behauptet … Am nächsten Tage aber werden die also zu Lügen gemachten Mitteilungen als vorbehaltlos zuverlässige und bekannte Tatsachen behandelt.“

Mühsams Privatleben tritt in seinen Aufzeichnungen dagegen merklich in den Hintergrund und erfährt im Lauf dieser Weltkriegsjahre eine deutliche Beruhigung. Symptomatisch dafür sind seine sich seit Kriegsausbruch gelegentlich manifestierenden Erektionsstörungen, wobei Mühsams Selbstwahrnehmung angesichts der zahllosen Pepis, Friedas, Emmys und Maxis, die sich in den vorangegangenen Jahren in seiner Stube buchstäblich die Klinke in die Hand drückten, denn doch verblüfft: „ich habe sehr die Befürchtung, daß es endlich vorbei ist mit den Jugendfreuden, die ich doch eigentlich gar nicht im vollen Maße genossen“. Es ist eben alles relativ. Wer ihn aus dieser Krise seiner Männlichkeit retten wird, ist Zenzl Kreszentia Elfinger, seine „bayerische Löwin“, die später seine Tagebücher der Nachwelt erhalten wird, als sie mit ihnen 1934 in die Sowjetunion flüchtet.

Zenzl ist es auch, die Mühsam im September 1915 heiratet (und nicht seine Dauerverlobte Jenny in Berlin). Bis dahin hat der Bohèmien freilich noch die eine oder andere Episode zu überstehen: So sind etwa just im Mai 1915, als es mit seinem Vater in Lübeck endlich zu Ende zu gehen scheint, plötzlich gleich zwei Frauen von ihm schwanger. Neben Zenzl noch sein „Gelegenheits-Gschpusi“ Fifi, die ihm, als er ihr zugunsten Zenzls den Laufpass gibt, noch eine geharnischte Abrechnung über sein Gerede von „Menschlichkeit“ und „seelischem Anstand“ schickt: „ob ich nun wirklich so ein Schweinehund bin, wie Fifi ihn von jetzt ab aus mir machen wird?“ Einigermaßen erleichtert darf Mühsam zur Kenntnis nehmen, dass beide Frauen Fehlgeburten erleiden. Charakteristisch für seine Selbstwahrnehmung ist dabei, dass er sich selbst nicht als verantwortlicher Akteur seines Lebens erscheint, sondern als dessen staunender Beobachter: „Ich sehe an meiner innerlichen Reaktion auf diese neue Wendung, wie starke Bande mich mit Zenzl verknüpfen, und wenn ich mich nicht über mich selbst täusche, wird sie die Frau werden, auf die ich alle Liebe und Treue meines künftigen Lebens konzentrieren werde. Aber verwunderlich ist es doch, wie feindlich mich mein Schicksal immer und immer wieder vom graden Wege meines Glücks in gestrüppige Seitenpfade zu reißen versucht.“

Nicht ohne Ironie ist, dass ihm ausgerechnet die Verwirklichung seiner „bürgerlichen Sehnsüchte“, die Gründung eines gemeinsamen Hausstandes mit Zenzl, zu einem disziplinierten Arbeiten und damit zum bislang ausbleibenden Werk verhelfen soll („Für mich ist die Ehe ein wahrer Jungborn“). Eine Hoffnung, die sich allerdings nicht erfüllt, nicht zuletzt deshalb, weil bald schon eine seiner Verehrerinnen in der gemeinsamen Wohnung ein und aus geht, was Zenzl, zu Mühsams allergrößter Überraschung, nicht toleriert. Notiert er am 30. November 1915 noch befriedigt, wie vorzüglich sich die beiden Frauen vertragen, nimmt ihn seine „bayerische Löwin“ rasch an die Kandare: „Furchtbar leid tut mir die arme Zenzl. Sie muß schrecklich leiden. Aber so eifersüchtig zu werden hätte sie mir früher zeigen sollen. Dann wäre die Ehe nicht geschlossen worden. Reue ist so dumm, aber ich durfte nicht heiraten. Ich mache Zenzl unglücklich und verpfusche auch mein Leben!“

Nebenbei schmilzt in den Kriegsjahren, angesichts der ständigen Teuerungen, das so lang erwartete Erbe erschreckend schnell dahin; ohnehin fällt nach Abzug der Schulden der Pflichtteil viel kleiner aus als erwartet und muss noch Zenzls Ex, der Bildhauer Ludwig Engler, mitversorgt werden. Immerhin sind die Lebensmittelteuerungen eines von vielen möglichen, von Mühsam notierten Vorzeichen für die von ihm erwartete, den Krieg beendende Revolution. Um endlich selbst aktiv zu werden, will er ab August 1915 eine pazifistische Allianz schmieden und einen „Weltbund gegen den Krieg“ gründen. Doch die Suche nach Gleichgesinnten scheitert, sein Name schreckt alle ab, die Malweiber von München ebenso wie Karl Liebknecht in Berlin.

Zu Mühsams Glück gilt dies offenbar auch für das Militär, muss er doch zweimal zur Musterung antreten, schließlich wird an der Front längst alles gebraucht, was ein Gewehr tragen kann: „Kommt es so, dann dauert der Krieg natürlich so lange, bis auch die letzten Reserven noch in die Schützengräben kommandiert werden, und so kann die groteske Vorstellung eines Tages Wahrheit werden, daß ich Unglücklicher in Feldgrau mit dem Bajonett eines Nilquellennegers an eine Pyramide gespießt und endlich in pharaonischer Erde für Deutschlands Ruhm und Größe von den Leiden meines Dichterdaseins ausruhn werde. Ein gottloser und schäbiger Witz – aber was wäre in diesen Zeitläuften unmöglich? Nur – ich mache nicht mit!“ Muss er auch nicht, stuft der Münchner Stabsarzt den notorischen Unruhestifter doch lieber als „dienstunfähig“ ein.

Ganz in seinem Element ist Mühsam am 17. Juni 1916, als es auf dem Münchner Marienplatz zu spontanen Protesten kommt. „Das Volk steht auf!“, notiert er anderntags etwas voreilig und muss bald erfahren, dass er, der mitten in der Menge stand, hinterher bei den Münchner Behörden als Drahtzieher der Proteste denunziert worden ist. Zu viel der Ehre, wie er findet: „meine Tätigkeit bei dem Tumult erstreckte sich einfach darauf, den Rufen der Menge eine bestimmte Richtung zu geben, die Aufregung über die Brotnot auf ihre Ursache, den Krieg, hinzu lenken. Aber die Rufe nieder mit dem Krieg wir wollen Frieden et cetera wäre[n] wohl ohne mein Zutun auch laut geworden, wie denn die Behörde meinen Einfluss auf die Massen überhaupt erheblich überschätzen dürfte. Ich wollte, ich könnte ihrem Verdacht noch Recht geben.“ Zu Recht stufen die Herausgeber der Tagebuch-Edition diese Episode als Einübung in jene historische Rolle ein, die auf Mühsam nach dem Krieg in der Münchner Räterepublik zukommen sollte.

Zu den aus heutiger Sicht hellsichtigsten Passagen gehören Mühsams Beobachtungen und Reflexionen über den plötzlich grassierenden Antisemitismus als Folge der wachsenden Frustration in der Bevölkerung über den ausbleibenden Kriegserfolg. „Gestern erzählte mir eine Dame“, notiert Mühsam am 23. November 1915, „die ich durch Frl. Schmied […] im Café Stefanie kennen lernte, eine Jüdin, wie sie in einem Münchner Lokal Unterhaltungen zwischen Bürgern und Soldaten belauscht hat. Die Soldaten, lauter zu Krüppeln Verwundete, hielten mit den derbsten Urteilen gegen den Krieg nicht zurück, sowenig wie die Bürger, die ihrerseits das Unglück in den Nahrungsmittelpreisen sehn (tatsächlich kostet ein Ei heute schon 24 Pfennige gegen 7 in normalen Zeiten). Die Stimmung in dem Lokal sei aber umgeschlagen, als dann das Gespräch auf die Juden kam. Die Soldaten hätten sich gerühmt, in Polen die Kaftan-Juden einfach erschlagen zu haben, und die Bürger seien mit dieser Haltung sehr einverstanden gewesen und hätten sich höchst antisemitisch gebärdet… Judenfeindliche Andeutungen hört man jetzt auch von Leuten, denen sowas früher ganz fern lag, und da bei der Masse – auch der sogenannten Intelligenz – Einsichten und Ansichten ebenso epidemisch auftreten wie Sentiments und Ressentiments, so dürfen wir Juden in Deutschland uns noch auf recht artige Dinge gefaßt machen.“ Knapp zwei Jahrzehnte später, am 10. Juli 1934, wurde Erich Mühsam im KZ Oranienburg von den Nazis ermordet.

Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 5. 1915-1916.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2013.
352 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426819

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Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 4. 1915.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2013.
480 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426802

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