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Malte Kleinwort und Joseph Vogl haben Lektüren zu Kafkas Romanfragment „Das Schloss“ vorgelegt

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn einer jeden Rezension über einen Kafka-Aufsatzband gehört wohl der obligatorische Hinweis, es also mit einem weiteren Kafka-Aufsatzband zu tun zu haben und im nächsten Schritt die Zahl der nun in den Bibliotheken ‚verstaubenden‘ Kafka-Aufsatzbände mehr oder weniger ironisch zu beklagen, gepaart mit einem Seitenhieb auf die so genannte ‚Kafka-Forschung‘, die sich a) nur noch um sich selbst drehe, b) den Kafka vor lauter Kafka-Bänden längst aus den Augen verloren habe und c) ohnehin nur noch Tagwerk einer im Grunde obsolet gewordenen Germanistik sei, die einen ordnungsgemäßen Wissenschaftsbetrieb allein für die Drittmitteleintreibung aufrechterhalte und demnach, man bedenke Punkt a), einen derartigen der Geld gebenden Welt nur noch vorgaukele. Und so weiter.

1.

Das sei hiermit getan und für erledigt erklärt, womit wir augenblicklich in medias res springen und zugleich verkündigen können, tatsächlich jedem neuen Kafka-Aufsatzband, sei er greifbar, stets sehr aufgeschlossen, ja interessiert zu begegnen – ernsthaft. Nicht unbedingt in der Erwartung, Neues über Kafka oder gar sein Werk zu erfahren,[1] sondern aus einer gesunden, wissenschaftlich zu nennenden Neugierde heraus, wohin die Kafka-Rezeption es jeweils treibt und was die eine oder eben die andere interpretatorische Ausrichtung nun über die Befindlichkeiten der Zeit aussagen könnte: Kafka-Rezeptionen sind ja auch, oder womöglich gar ausschließlich,[2] mal mehr und mal weniger nährstoffreiche Konzentrate des jeweiligen Rezipientendiskurses. Eine Binsenweisheit, natürlich. Doch im Fall Kafkas ein durchaus lohnender Ansatz und zugleich Motivation zur neugierigen Lektüre auch des hundertsten oder gar tausendsten Kafka-Aufsatzbändchens, denn unseres Erachtens ist keinem anderen Künstler eine derart phänomenale Rezeptionsgeschichte eigen: Die sprichwörtlich gewordene Offenheit Kafka’scher Prosa, ja sogar der Biografie des Künstlers selbst, wandelt die diachrone Untersuchung der Kafka-Rezeptionen zur reinsten Historiografie, indes die synchrone Darstellung binnenkulturelle Divergenzen offenlegt und, grundsätzlich, interkulturell angelegte Vergleichsmodelle liefert,[3] deren komparatistische Behandlung zu markanten Einsichten führen kann. Und, wie gesagt, geht man so an die Sache heran, erhält man sich sozusagen nebenbei den Spaß an der Lektüre.

Diesmal also die Topografie. Und Das Schloß. Was ja naheliegt, gleichgültig, wie ausgelutscht und breitgetreten der ‚topographical turn‘ im Jahre 2014 auch letztlich sei, allein der Titel des letzten großen Fragments stößt den Forscher ja mit der Nase auf den Raumdiskurs. Und ist der Forscher dann erst einmal auf die Spur gekommen, scheint ja kein Ende absehbar: Der Bau, Amerika (aka Der Verschollene, aber immerhin), Auf der Galerie, Kinder auf der Landstraße, Der Ausflug ins Gebirge, es scheint kein Ende zu nehmen und Kafka kann im Grunde als der Literat des Raums bezeichnet werden: Allein die semantisch sehr pointierte Verschiebung, die Georg Bendemann erlebt, als er im Urteil von seinem Zimmer aus in die Stube des Vaters wandert, ist hinreichende Begründung, topografische Werkzeuge an das Werk Kafkas nicht allein anlegen zu können, sondern gar zu müssen. Oder man denke an die Dachgeschoss-Labyrinthe in Der Proceß, die gleichsam einen zweiten semantischen Raum zur Normalität des Josef K. konstituieren, einen Raum – dessen Sinn ja niemals ausreichend gefüllt wird und der deshalb eben genauso gut als ‚Raum‘ topografischer Manier definiert und derart etikettiert in den Diskurs geworfen werden kann. Und eben Das Schloß, in welchem zwei Semantiken, die des Dorfes und die des Schlosses, auf interessante und die Proceß-Ausgangslage variierende, ja diese eindeutig übersteigernde Weise höchst komplex verwoben werden: Räume also sind in Kafkas Werk genügend vorhanden, und damit auch ‚Räume‘.

Mag man jedenfalls meinen, wobei – dies gilt ja letztlich für eigentlich jede Theorie – entscheidend ist, wie man die feine, aber doch so Theorie tragende Unterscheidung zwischen Raum und ‚Raum‘ nun definiert und motiviert: Topographie ist ein leicht geäußerter, sicherlich etwas hermachender, den Laien auch rechtschaffen beeindruckender Begriff, doch nutzt dies wenig, wenn der Raum als Fake-‚Raum‘ weiterhin mit allen erdenklichen Bedeutungen gefüllt und dies dann als topografische Methode verkauft wird. Malte Kleinwort und Joseph Vogl immerhin, die Herausgeber des vorliegenden Kafka-Aufsatzbandes, wissen natürlich um diese immanente Gefährdung lauterer Wissenschaftsabsicht und engen gleich im Vorwort die topografische Untersuchungsmethode, die dem Schloß-Roman widerfahren soll, wie folgt ein: „Das leitende Motiv des Bandes ist die dabei die Frage nach der Topografie in einem mehrfachen Sinn. So zielt die Frage ebenso auf K.’s Schwierigkeiten, in der Schloss-Welt voranzukommen, wie auf die labyrinthische Anlage des Romanfragments, die (Un-)Zulänglichkeit des Schlosses/Schlosses, auf den retardierenden Fortgang des Erzähl- und Schreibprozesses oder die Bahnung unterschiedlicher, zuweilen divergierender, analytischer Zugänge zum Schloss.“ Hm. Man soll ja die Flinte nicht schon während der Lektüre des Vorworts ins Korn werfen, doch diese Absichtserklärung scheint ja wieder alles und damit irgendwie auch nichts zu beinhalten – zudem wird die topografische Methode in ihrer strengen Auslegung ja nicht angewandt und also nicht der ‚Raum‘ an sich in das Zentrum gerückt, sondern anscheinend von Beginn an vor allem als Platzhalter narrativer, (text)struktureller und gar biografischer Fragestellungen genutzt. Wie gesagt, diese Schwammigkeit muss ja keine unmittelbaren Auswirkungen auf die einzelnen Artikel haben, aber vorgewarnt ist man dann doch irgendwie.

2.

Und tut für einen Großteil der Texte auch gut daran, leider. Denn es sind schon – abseits aller gebotenen Empathie des Arbeits- und Fachkollegen – äußerst seltsame Blüten dabei, die da aus dem topografischen Topos gewuchert sind.

Der eine Herausgeber, Malte Kleinwort, etwa strapaziert in seinem Artikel „Das Schloss zwischen Buch und Handschrift“ die von Beginn an wenig erhellende und schon gar nicht zwingende Analogie der Schloß-Editionen einerseits und den Dorf-Schloss-‚Räumen‘ andererseits: So gibt es, wie Kleinwort erklärt, „keinen einfachen, berechenbaren Weg von der Handschrift (dem Dorf) zum Buch (dem Schloss)“. Hm. So verworren bekanntlich der Prozess der Kafka-Editionen ablief und immer noch abläuft, so unnötig, anstrengend und herbeigeredet scheint die hier vorgenommene analogische Setzung zu sein: Nicht nur, dass Kafka ja nun notgedrungen nicht selbst Hand an die Editionen legen konnte, und also frei von jedweder Verantwortung ist, wird ganz grundsätzlich nicht klar, welchen Sinn eine derartige Gleichsetzung haben könnte – außer dem wohlgemerkt, den Artikel über Kafka-Editionen irgendwie mit topografisch klingenden Elementen anzufüllen. Ansonsten verbleibt der Artikel daher auch bei bereits bekannten Thesen, etwa der, dass die im Roman so viel Raum einnehmenden Erzählungen über Schloss und Dorf eine „Scharnierfunktion“ innehaben und damit „Bedeutsamkeit für das Verhältnis von Dorf und Schloss bekommen“. Nun ja, das ist nun so logisch, dass es eigentlich nicht mehr geäußert werden müsste; und mit dem Grundthema, der Topografie nämlich, hat es gar nichts mehr zu tun.

Nur konsequent demnach, wenn der zweite Herausgeber, Joseph Vogl, schon im ersten Artikel des Bandes eben diesem Oberthema mit einem knappen Satz den Todesstoß versetzt: So bewege K. sich „in einem grenzenlosen Reich der Grenze. Und diese Schwelle erweist sich als Element eines Raums, der weniger topografisch als topologisch funktioniert“. Abseits der Frage, wie ein Raum nun genau funktionieren kann, verschärft Vogl seine These nochmals und erklärt die zur Topologie verschnürte Topografie zur Atopologie – und den Weg Ks. zu „überhaupt keine[m] Weg“. Was dann bleibt? Ungewissheit einerseits, so Vogl ebenfalls nicht sonderlich neu eine Ahnung aufgreifend, die jedem Oberstufenschüler angesichts der Lektüre des Romans beschleichen wird, die langsam dräuende Erkenntnis andererseits, so wir, den Titel dieses Kafka-Aufsatzbandes wohl zu ernst, zu wortwörtlich gelesen zu haben: ‚Schloss‘-Topographien soll also nicht als Teil einer topografischen Analyse verstanden werden, sondern eher als ungezwungener, ergo geisteswissenschaftlicher Plauderdiskurs über den Kafka-Roman, in welchem eben hin und wieder der Begriff Topografie auftaucht, ohne wirklich etwas zu bedeuten.

Gut zu wissen. Nur hat Bettine Menke dies wohl ihrerseits nicht gewusst und beschäftigt sich in ihrem Artikel „Kafkas Labyrinthe“ tatsächlich mit einem schwergewichtig daherkommenden topografischen Phänomen, kommt in Anlehnung an Umberto Ecos Labyrinth-Definition jedoch zu der wenig überraschenden These, es im Schloß-Roman mit keinem klassischen Labyrinth zu tun zu haben, dieses sei nämlich „durch die Bezogenheit auf ein Ende, Zentrum und Ausgang bestimmt“. Ein derartig gestalteter Raum sei als Aufgabe daher „immer lösbar“. Nur Kafkas Labyrinth eben nicht, weshalb es keines sein kann –aber vielleicht ein Rhizom?[4] Und daher ein Labyrinth dritter Ordnung? Dies hänge, so Menke, von der Definition ab – Joseph Vogl immerhin definiere ein Rhizom als Labyrinth, sie jedoch nicht, da das Rhizom ihrer Ansicht nicht an eine „oppositive und hierarchische Ordnung“ gebunden sei und Kafkas Roman „systematische Nicht-Geschlossenheit“ impliziere. Da steht dann Meinung gegen Meinung, abhängig von der jeweiligen Begrifflichkeit oder besser: von deren Verwendung – obgleich ironischerweise die Konklusion hieraus bei beiden, Vogl und Menke, dieselbe ist: Waffenbrüder nennt man so etwas wohl mit euphemistischem Zungenschlag, ist man jedoch schlecht gelaunt: Haare spaltendes Getue.

Je nun, Menkes Rigorosität in der Frage der Definition wiederum ist so bauernschlau wie hellsichtig, da es ja immer irgendwie eine Frage der Definition ist – so kann eine ge- bis zerdehnte Begriffsdefinition von ‚Topografie‘ letztlich jeden erdenklichen Aspekt des Kafka’schen Romans irgendwie dann doch einfangen und den Abdruck in dem hier zu besprechenden Kafka-Aufsatzband rechtfertigen; ja, selbst die Müdigkeit, wie Carolin Duttlinger in ihrem Beitrag namens „Kafkas Schloss zwischen Müdigkeit und Wachen“ herausarbeitet, nämlich erklärt, „stilistische und strukturelle Aspekte des Romans wie Erzählperspektive, Topografie und Figurenkonstellation können im Zeichen einer Poetik der Müdigkeit gelesen werden“. Eine solche Poetik, wie immer die im Detail beschaffen sein mag, ist, wir ahnen es, recht rasch auch topografisch adäquat einzukreisen, da müssten wir gar nicht weiterlesen, sondern könnten ratend anempfehlen: Da ist dann der Zustand des Schlafes der eine ‚Raum‘ und der des Wachseins der andere; die ‚Schwelle‘ ist dann, tja, die Müdigkeit. Und das ist dann eine Poetik – qua definitionem gar eine topographische. Und dann? Wird es problemlos möglich, Kafkas Schloß mit Dornröschen in Bezug zu setzen. Und nun wiederum scheint alles möglich. Einfach alles.[5]

Verspürt man derartige Euphorie – oder gar Hysterie, tja, sollte man – in gut wissenschaftlicher Manier misstrauisch geworden – erst einmal innehalten, sich zurücklehnen und, sammelnd sowie wertend, wie folgt reflektieren: Größtenteils sind die hier erwähnten Aufsätze ermüdend in der Wiederholung längst bekannter Einsichten und daher wenig weiterführend, schon gar nicht inspirierend; ärgerlich aber sind sie in der ermüdenden Etablierung zumeist längst bekannter Thesen innerhalb der überspannten Spreizung hin zum Felde der Topografie, was hin und wieder zu abstrusen Behauptungen und recht sinnlosen Thesen führt – wahre Klopper lesen wir da, wie es etwa auch und wohl nur zufällig dem verehrten Gerard Neumann widerfährt, der in seinem ansonsten durchaus lesenswerten Aufsatz erklärt, das Fenster sei „die vielleicht bedeutendste Erfindung der Architektur“. Das Fenster? – Und wie wäre es mit der Wand? Dem Bogen? Dem Dach?

Klar, Kafka hat viel über Fenster geschrieben, weitaus weniger über Dächer – und so bestätigen sich auf geradezu wundersame Weise gewisse Prämissen.

3.

Folgerichtig sind die Aufsätze am gehaltvollsten, die sich rigoros den Einschnürungen des Oberthemas widersetzen und eben ihr Ding durchziehen, wie man so sagt. Stanley Corngolds „Ritardando im Schloss“ und Benno Wagners „Allogenität und Assemblage“ sind hier an erster Stelle zu nennen – deren Texte ja auch nicht zufällig vorher in anderen Zusammenhängen abgedruckt wurden.

Corngold begründet die These, Kafka schließe mit diesem letzten Werk in vielerlei Hinsicht eine kommentierende, variierende und übersteigende Brücke zum Gesamtwerk. So wiederholen sich, wie man schon frühzeitig gesehen hat, etwa bestimmte Figurenkonstellationen und Sujets der Vorgängertexte, wobei Original und Variation sich gegenseitig zu kommentieren scheinen: „Kafka-Meme, Partikel von Kafkas früheren Schriften, werden im Schloss von Neuem aufgerufen – und in der Tat von Neuem“. Womit eine intertextuelle Kommunikationssituation etabliert scheint, die tatsächlich an die Gesprächsführung von Dorf und Schloss gemahnt: „Der Leser wird herausgefordert, die Beziehung dieser Parallelwelten zu verstehen. Die Dinge haben etwas miteinander zu tun; sie sind ganz sicher nicht dasselbe; sie sind nicht völlig verschieden; also welche Beziehung zwischen ihnen ist denkbar?“. Damit kommentiere Kafka zugleich die Entwicklung K.s, ja deute sozusagen metatextuell den eigentlichen Sinn von K.s Suche an: „Letztlich ist Das Schloss ein Werk über jemanden, der nicht weiß, was er will, was heißt: über einen Jedermann“.

Nach Corngold dienen die Kafka-Meme[6] dem „Aufschub und der Umleitung der Erwartung eines narrativen Telos durch den Leser“. Dieser bekomme es ja nun plötzlich nicht mehr mit Wahrheiten zu tun, sondern mit Wahrscheinlichkeiten, die in der Gegenüberstellung beider Welten – ob Dorf/Schloss oder Text/Gesamtwerk – erblühen und in der Unabgeschlossenheit einen Regress zumuten. Diese Ansicht hat nun etwas mehr Fleisch an sich, da die ja schon zuvor oftmals diagnostizierte Weglosigkeit selbst zum Motiv wird: Corngold verweist am Ende seines Aufsatzes in geradezu ungeduldigem Gestus auf Kafkas Berufstätigkeit „als Experte für auf Gesetzen der Wahrscheinlichkeit beruhende Risikoversicherungen“ – und greift damit nicht nur ein äußerst heißes Eisen der gegenwärtigen Kafka-Forschung auf, sondern spielt den Ball souverän an den Kollegen Benno Wagner weiter, der als Mitherausgeber der Amtlichen Schriften Kafkas schon seit einiger Zeit bemüht ist, die von den Geisteswissenschaftlern eingezogene Grenze zwischen Tag- und Nachtarbeiter Kafka dorthin zu verfrachten, wo sie hingehört – in den Orkus nämlich.

Denn natürlich und ganz unzweifelhaft hat Kafka von seiner Brotarbeit auch künstlerisch profitiert und sei gar, so Benno Wagners grundlegende These einer Vielzahl von Veröffentlichungen, von eben dieser Arbeit dazu inspiriert worden, seiner Zeit im Jahrzehnte, gar ein Jahrhundert voraus gewesen zu sein, vor allem in den Thesen der Biopolitik. Diesmal geht es Wagner speziell darum, zu zeigen, „dass im literarischen Werk Franz Kafkas, und insbesondere in seinem letzten großen Roman, zentrale Konzepte der ANT vorweggenommen sind“. Eben hier wird die Büroarbeit bedeutsam: „Der Unfallversicherungsjurist Kafka […] war in eben jener epochalen Turbulenzzone aufgestellt, in der der von Latour rekonstruierte Kampf um die Verfassung der Moderne stattfand: die Zone der Vermischung zwischen Menschen, Materialien und Technologien“. In diesem Sinne konzipiere Kafka mit Das Schloß eine „Versuchsanordnung […], deren Testläufe vorführen, was geschieht, wenn man – unter mitteleuropäischen Bedingungen um 1900 – das soziale Spiel nach den Definitionen und Regeln spielt, die die Diskurse der Moderne (etwa: Max Weber) und der Antimodernen (hier: Hans Blüher) zur Verfügung stellen“.

Diese Deutung Kafkas als höchst sensiblen Chronisten eines Umbruchs der biopolitischen Situation, dessen Beben bis heute die Diskurse auf vielfältige Weise bestimmt, ist wohltuend angereichert mit Sekundärquellen und bewegt sich damit auf gefestigtem Grund – und hat so gar nichts mehr gemein mit den oftmals doch recht abgehoben argumentierenden Aufsätzen üblicher Kafka-Forschung, denen es eben ausreicht, das Fehlen eines Weges als Alleinstellungsmerkmal zu feiern. Tatsächlich gelingt es Wagner mit seinem konsequenten Verweis auf die Berufstätigkeit Kafkas, diesen in die historischen und zeitgenössischen Diskurse einzureihen und gleichsam zu erden – und damit Wege zukünftiger Forschungen zu ebnen. Doch sollte auch nicht verschwiegen werden, dass Wagner diese seine These seit gefühlten zwanzig Jahren immer wieder, wenn auch leicht variierend, aufs Tapet bringt, oftmals gemeinsam mit Corngold. Weshalb man zum gründlichen Studium wohl auch besser zu dem von beiden verfassten Band The Ghost in the Machine aus dem Jahre 2011 greift, wo die hier notgedrungen nur angedeuteten Thesen gründlicher ausgeführt sind. So sind die weitaus besten Texte dieses Kafka-Aufsatzbandes bereits sattsam gegorene, ja überreife Früchte bereits bestellter Böden – und als Nachhut womöglich nur noch historisch von Interesse.

4.

Die Herausgeber des Kafka-Aufsatzbandes deuten im Vorwort drei innovative Forschungswege an, die Kafka ins neue Jahrtausend überführen könnten und die, natürlich, in ihrem Band unter dem Stichwort der Topografie repräsentiert seien: Die Poetik des Institutionenromans, die Berufstätigkeit und die Veröffentlichung der Faksimiles der Franz-Kafka-Ausgabe, welches neue Zugänge ans Werk erlaube. Kleinwort und Vogl lesen diese Annäherungen an Kafka als originelle Fortführungen der obsolet geworden „spekulativen – allegorischen, parabolischen und existentialphilosophischen – Deutungen“.

Diesem ehrgeizigen, aber doch letztlich herkömmlichen Anspruch ist vollumfänglich beizupflichten – allein, besieht man sich die meisten Texte des vorliegenden Bandes genauer, münden viele Schlussfolgerungen in eben den bekannten Bahnen, gleichgültig, wie man diese nun etikettiert. Manfred Engel beispielsweise endigt seinen „Polyperspektivisch und polyfunktional“ reicht schwerwiegend betitelten Aufsatz mit der Feststellung, Kafka entwerfe in dem Roman „anthropologische Meditationen im Medium der Literatur über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten geglückten Lebens“. Nun, das Medium ist ganz klar die Literatur, immerhin hat Kafka Bücher geschrieben, zudem: Wenn diese Konklusion nicht existentialphilosophisch ist, was dann?

Letztlich zeigt der Band, dass neue Etikettierungen selten neue Einsichten nach sich ziehen. Natürlich, zumeist ist der Weg das Ziel und tatsächlich können ja neue Termini durchaus neue Konsequenzen im Sinne neuer Ansätze nahezulegen, doch sehen wir dies in dem vorliegenden Band nur vereinzelt eingelöst. Auf der im Vorgriff erwähnten und uns ja maßgeblich interessierenden Meta-Ebene der Kafka-Rezeptionen erhärtet der Großteil der einzelnen Aufsätze wiederum unsere These,[7] dass die Auseinandersetzung mit Kafka in Hinsicht innovativer Zugänge in eine Sackgasse geraten ist,[8] da Innovationsdefinitionen selbst sich in einer solchen befinden. So kann man auch diesen Band wieder als Teil der Rezeptionsgeschichte Kafkas lesen und damit als Partikel des aktuellen Originalitätsdiskurses. Doch dies ist ein anderes, nämlich spannendes Thema, welches an anderer Stelle verhandelt gehört.

Anmerkungen:

[1] Nein, Kafkas Werk ist in der Tat ‚wahre Kunst‘ und bleibt damit auf ewig undurchdringlich. Und das erkläre ich vollen Ernstes in der wenig beneidenswerten Situation eines Menschen, der als ‚Kafka-Forscher‘ mehr schlecht denn recht sein tägliches Brot zu verdienen trachtet, indes seiner Forschungen jedoch stets darüber im Klaren bleibt, weniger Kafka denn sich selbst und den ihn durchdringenden Zeitgeist zu erforschen.

[2] Zu letzterem tendiere ich.

[3] Ganz und gar eigennützig weise ich auf meine diesbezüglichen Forschungen hin, beispielsweise: ‚Literature of the Soul‘. Die Kafka-Rezeption der chinesischen Autorin Can Xue. In: Orbis Litterarum. Volume 64 Issue 6, S. 478-499.

[4] Auftritt eines Begriffs, der heutzutage inflationär gebraucht wird und daher in eine Kafka-Rezeption unbedingt hineingehört: Er wird weniger von Gilles Deleuze und Félix Guattari abgeleitet, sondern eher von der hochmodernen Netzwerkdefinition – also schick. Und wenig hilfreich.

[5] Ich will da jetzt wirklich nicht tiefer gehen, aber ist Dornröschen eigentlich jemals müde, wie man bei einer Poetik der Müdigkeit ja nun einmal erwarten würde? Sie ist wach, schläft und ist wieder wach. Von Müdigkeit ist da keine Rede – oder verpasse ich da was?

[6] Ein, wie ich finde, unglücklicher Begriff, da die Memetik Dawkins ja nicht unmittelbar gemeint ist und der Begriff ‚Meme‘ in der Internetkultur eine spezifische und an dieser Stelle nicht passende Bedeutung trägt. Unglückliche Wahl also, aber in gewissen Kreisen immer noch sehr modern.

[7] Formuliert in meiner noch unveröffentlichten Habilitationsschrift Nach dem Original: Eine Phänomenologie des Originären. Unter besonderer Berücksichtigung Franz Kafkas.

[8] Dies ist meiner Ansicht nach als Resultat einer Mutation der Definition und des Verständnisses von Originalität zu begreifen und wird in der oben erwähnten Schrift in eben diesem Sinne untersucht. – Ansätze dieser Argumentation finden sich auch in meinem 2012 veröffentlichten Band Nach der Ironie. Franz Kafka, David Foster Wallace und der Kampf um Authentizität, der seit gut zwei Jahren zu den nicht besprochenen Werken auf Literaturkritik.de zählt, wie ich ohne jede emotionale Regung vermerke.

Kein Bild

Malte Kleinwort / Joseph Vogl (Hg.): "Schloss"-Topographien. Lektüren zu Kafkas Romanfragment.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
258 Seiten, 31,99 EUR.
ISBN-13: 9783837621884

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