Raus aus dem Schattendasein

Horst Brunners Formgeschichte würdigt Sangspruchdichtung als eigenständige Gattung

Von Martin LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sangspruchdichtung ist neben der geistlichen Lyrik und dem berühmteren und vielfach untersuchten Minnesang die dritte große Gattung lyrischer Texte im Mittelalter. Im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts entstanden, entwickelte sich die Gattung nach Walther von der Vogelweide zu einer eigenständigen Lyrikform. In der Forschung stand die Sangspruchdichtung stets im Schatten der höfischen Lyrik, des Minnesangs. In dem letzten Jahrzehnt haben allerdings einige grundlegende Publikationen Einblicke in die Geschichte, Funktion und Aussagemöglichkeiten dieser Gattungen erschlossen. Dennoch mahnte Helmut Tervooren noch 2001 an, dass eine Formgeschichte der Sangspruchdichtung noch immer ausstünde. Dieses Desiderat füllt nun die grundlegende Studie von Horst Brunner über die formalen Merkmale dieser Gattungen aus, die der Autor als historische Entwicklung nachzuzeichnen sucht. Dafür eröffnet der Band Einblicke in die dichte Überlieferung und den Formenreichtum dieser eher verkannten Dichtungsart. Er referiert in seinen Analysen von einzelnen Tönen die Ergebnisse der Forschungsliteratur und weist auf eigene Beobachtungen hin, die sich sowohl aus dem musikalischen Material, als auch aus der diachronen Zusammenschau ergeben. Zugleich werden Verbindungen zwischen den Tönen, Bauformen, Strukturelementen nachgezeichnet.

Auf knappem Raum werden Analysen der Sangspruchdichtungen konzentriert durchgeführt, um das Spektrum der sprachformalen Mittel für den einzelnen Dichter greifbar zu machen und die Abfolge der Dichter in einem historischen Ablauf nachzuzeichnen. Erst die detaillierte Übersicht über die verwendeten Mittel gibt Anhaltspunkte zu einer Formgeschichte. Am Ende eines jeden Kapitels, zuweilen auch einzelner Abschnitte, bietet der Autor entweder eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten nachgewiesenen Formelemente oder in einem Überblick eine Einordnung der charakterisierenden Merkmale für den jeweiligen Dichter oder eine Gruppe von Sangspruchdichtern in den Entwicklungskontext. Damit bietet der Band neben der herkömmlichen chronologischen Ordnung ein Paradigma formaler Entwicklungen und Übernahmen von und zwischen den Dichtern. Auf diese Weise werden inhaltliche und formale Elemente zeitlich geordnet und der Leser erhält ein dichtes Informationsnetz, das zum weiterführenden Studium anregt und die Entwicklungsprozesse der Sangspruchdichtung greifbar macht.

Der einleitende Teil bietet eine Periodisierung des Zeitraums, in dem die Sangspruchdichtung besonders hervortrat (ca. 1180 bis ca. 1480), eine knappen Überblick über die Gruppe der Dichter, eine übersichtliche Reimlehre mit den wesentlichen formalen Merkmalen dieser lyrischen Gattung. Weiterhin erhält der Leser Hinweise auf die musikalischen Mittel, die für die Komposition von Sangspruchdichtung benutzt wurden, was jedoch bei der Quellenlage vielfach nur vage Angaben ermöglicht. Als Hinführung zum analytischen Teil offeriert der Autor eine Übersicht über die Veränderungen der formalen Merkmale und belegt damit den Gedanken, dass Formgeschichte zugleich Gattungsgeschichte ist, der im analytischen Teil durch die Einzeldarstellungen untermauert wird.

Auf zwei Bezugsgrößen greift Brunner immer wieder zurück. Die eine stellt die „experimentierfreudige“ Dichtung von Walther von der Vogelweide dar, die andere ein vielleicht vom Dichter Stolle entwickeltes Strukturmuster, das sogenannte „Alment“, auf das sich eine Anzahl von Autoren bezogen zu haben scheint.

Während die frühere Forschung davon ausging, dass Sangspruchdichtung sowohl gesprochene, wie gesungene Texte enthielt, folgt Brunner der mittlerweile anerkannten Vorstellung, in der Sangspruchdichtung grundsätzlich „gesungene Texte“ anzunehmen. Damit werden auch nachweisbare, musikalische Mittel Teil der Analyse, was zu komplexen, nicht immer unbezweifelbaren Annahmen führen kann. Das erklärt aber auch, warum dieser erkenntnisreiche Band nicht für Leser geeignet scheint, die sich eine Einführung in das Thema Sangspruchdichtung erhoffen. Dieser Band wendet sich offensichtlich an Experten mehrerer Disziplinen, wie Literatur-, Kultur- und Musikwissenschaftler. Dieser Ausschluss hätte vielleicht umgangen werden können, wenn der Autor, auf die Gefahr hin, dass der Band dadurch wahrscheinlich eine oder zwei Lagen umfangreicher geworden wäre, zu den Strophenschemata jeweils Beispieltexte hätte abdrucken lassen. Natürlich kann man – als Experte – entsprechende Aussagen mit den Sangspruchdichtungen konsultieren, besser erschiene aber, wenn Texte zur Überprüfung der einzelnen Angaben zumindest der jeweils ersten Strophe eines Beispiels zu einem Ton abgedruckt worden wären. Die Kontrollierbarkeit und Überprüfbarkeit von Angaben gehört zum demokratischen Anspruch von Wissenschaft. Dass jedes Buch auch Fehler enthält, ist nichts Neues. So sind unter anderem einige Angaben zu den Reimklängen zu korrigieren. Bei Frauenlob tritt in der Analyse zum Ton IV ein unerklärtes Formelement „4sd“ auf, beim Abgesang des Tons II lässt sich an den Texten meines Erachtens das Reimschema „4c 4d 4d 4c“ statt des vorgeschlagenen: „4c 4d 4c 4d“ ablesen.

Ungeachtet dieser wenig aufregenden Fehler bietet der Band gute Anregungen und Grundlagen, die Sangspruchdichtung weiter zu erforschen und dabei, wie es wissenschaftliches Arbeiten stets erfordert, auch der eigenen Analyse zu trauen und Angaben aus der Forschung zu überprüfen.

Der Band gibt umfangreiches Material an die Hand, das den Prozess der Ausbildung der Form aus dem Kontext romanischer Lieder und des höfischen Minnesangs präzisiert und greifbar macht. Damit kann man die Sangspruchdichtung besser als zuvor als eigenständige Gattung beschreiben und vom Minnesang abgegrenzen. Zugleich eröffnet sich aber auch die Chance, Untersuchungen über die parallele Entwicklung und den Kontext der beiden großen Lyrikformen des Hochmittelalters auf sachliche Grundlage zu stellen. Auch die Leistungen einzelner Dichter hinsichtlich ihres Beitrags zur Gattungsgeschichte werden deutlich ablesbar. Der Leser ist damit nicht mehr gezwungen, sporadische Ergebnisse zur Grundlage eines historischen und gattungsbezogenen Zusammenhangs zu machen, sondern der Entwicklungsgang der Gattung liegt dank dieser differenzierten Formanalyse und geschichtlichen Reihung in vielfältiger Weise erschlossen vor.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Horst Brunner: Formgeschichte der Sangspruchdichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2013.
224 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783895009433

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch