Klassizismus oder Kulturhermeneutik?

Jan Broch unternimmt den Versuch, „Literarischen Klassizismus“ zu definieren

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit manchen Begriffen in der Literaturwissenschaft ist es ja so eine Sache. Irgendwie bezeichnen sie etwas, von dem jeder weiß, was es ist, das aber niemand exakt definieren kann. Was ist ein ,Gedicht‘?

Besonders deutlich tritt das Nebulöse manches fachsprachlichen Ausdrucks bei den Epochenbezeichnungen zutage, und bei keiner so sehr wie bei der ,Weimarer Klassik‘. Eine klassische Epoche, die sich mit einer romantischen Epoche überschneidet? Wie soll das gehen? Und überhaupt, wie legitimiert sich der Anspruch, eine Klassik zu sein, also ein klassisches Muster von Literatur zu bilden? Ist das ein Kanonisierungseffekt? Literaturhistorische Konvenienz? Und wie bringt man jene Autoren unter einen Hut, die man zwar zu dieser Klassik zählt – Goethe, Schiller, im weiteren Umfeld Wieland und Herder –, die aber doch alle ganz unterschiedlich gedacht und gedichtet haben?

Und als wäre das noch nicht genug, gibt es noch diese Termini, die um den Klassik-Begriff schwirren wie die Motten um das Licht: Klassizismus. Neoklassizismus. Klassiker. Klassisch. Wertzuschreibungen, Epochenzuordnungen, Stilbegriffe, es gibt fast nichts, was es nicht gibt, wenn man sich mit den Ableitungen des lateinischen Worts ,classicus‘ einlässt. Ein dumpfes Gefühl sagt dem Irrenden in diesem Wortfeld nur, dass ,Klassik‘ etwas Gutes, Schönes, Wahres ist, während ,Klassizismus‘ das einfallslos-nachtappende Stiefgeschwisterchen alles Klassischen ist.

Eine Vielzahl von Vorschlägen ist gemacht worden, wie man mit diesem Problem umgehen sollte. Stefan Matuschek etwa (um nur ein Beispiel aus jüngster Zeit zu nennen) regte an, den Begriff ,klassizistisch‘ als reine Stilbeschreibung zu verwenden: Was ,klassizistisch‘ sei, orientiere sich an der mustergültigen Antike; ,klassisch‘ werde es erst, wenn es durch die Rezeption ebenfalls als mustergültig anerkannt werde. Die ,Weimarer Klassik‘, die man dann tatsächlich nur wegen ihrer Kanonisierungsgeschichte als solche bezeichnen könnte, wäre demnach keineswegs durchweg ,klassizistisch‘. Im Gegenteil, ein Autor wie Schiller zum Beispiel, in dessen Denken die Antike als Vorbild und Maßstab eine zentrale Rolle spielt, wäre als ,klassischer‘ Autor nur Verfasser einer handvoll ,klassizistischer‘ Texte wie der in Distichen verfassten philosophischen Elegien. Dieser Ansatz einer Begriffsbestimmung berührt sich in Manchem mit dem, was Jan Broch in seiner Studie „Literarischer Klassizismus“ entwirft.

Broch geht es um eine Rehabilitierung des Klassizismus-Begriffs. Zu sehr habe man sich bisher von Vorurteilen und negativen Konnotationen leiten lassen, zu wenig sei systematisch geforscht worden. Er selbst macht nun in seiner mitunter etwas sperrig geschriebenen Arbeit den Vorschlag, ,Klassizismus‘ als eine kulturhermeneutische Haltung zu verstehen, die in Form einer Poetik das Bewusstsein um die antike Beeinflussung mit einer bestimmten – beispielsweise aufklärerischen – Intention verbindet: Der Bezug auf die frühere Epoche lässt Rückschlüsse auf die eigene Gegenwart zu, die in literarischer Form für die Zukunft formuliert werden können.

In groben Zügen zusammengefasst: Eine Epoche (oder ein Dichter) erklärt eine andere Epoche (oder einen anderen Dichter) für mustergültig; das Mustergültige ist eine Klassik, weil es als klassisch gesetzt wird. Sich dieses Gesetztseins der Klassik bewusst, greift die Epoche (oder wenigstens der Einzelne) auf Elemente des Klassischen zurück: Das kann auf stilistischer Ebene geschehen – womit wir bei Matuscheks Bestimmung wären – , oder auf formaler. Broch nennt als Beispiel die antike Form der Totengespräche, die in bewusster Anknüpfung an diese Tradition – Lukian ist hier zu nennen – immer wieder neu aufgegriffen wurden. In jedem Fall geschieht dieser Zugriff auf als klassisch Anerkanntes bewusst, wenn ein klassizistisches Werk entsteht. Denn das Bewusstsein um den Konstruktionscharakter der Klassik ist zentraler Bestandteil des Klassizismus, der von daher nicht bloß affirmativ das Vorbild imitiert, sondern eine reflektierte und ausgewogene Rekonstruktion vornimmt. Diese Rekonstruktion soll über die Konstruktion der Klassik aufklären, besitzt somit also eine historisch-philosophische Dimension – der Zusammenhang, den Broch zwischen Klassizismus und Aufklärung sieht, wird so erkennbar: „Literarischer Klassizismus modelliert so dichterisch den philosophischen Prozess der Aufklärung als des Fragens zurück zu den Gründen der Phänomene und nach allem Anfang.“ Das Paradebeispiel für diese Art von Klassizismus ist der späte Wieland, dessen Romane „Peregrinus Proteus“, „Agathodämon“ und „Aristipp“ Broch einer eingehenden Untersuchung unterzieht, um an ihnen sein Modell zu verdeutlichen.

Mit seinem Vorschlag entfernt sich Broch bewusst von der üblichen Abwertung des Begriffs. Im besten Fall könne ein klassizistisches Werk, eben aufgrund seiner Eigenschaften, selbst zum Klassiker werden, mithin der Klassizismus der Klassik vorangehen – ein Gedanke, der sich zwangsläufig rückwärts führen lässt und die antike Klassik als Folge eines in vorschriftlicher Zeit bestehenden Klassizismus – der wiederum auf einer noch älteren Klassik fußt, und so weiter – begreifen kann. Dass sich diese Spirale empirisch nicht auflösen lässt, ist klar, verdeutlicht aber auch, dass der Klassizismus-Begriff, der hier diskutiert wird, nicht zum Epochenbegriff taugt: Klassizistisches ist zeit- und strömungsunabhängig, da der Rekurs auf Früheres jederzeit möglich ist. Broch nennt am Ende seiner Arbeit einige Beispiele für Klassizismus in der Moderne (Marguerite Yourcenar, der späte Gerhart Hauptmann), um dies zu untermauern.

Zu fragen bleibt, was mit dieser Definition gewonnen ist. Denn ,Klassizismus‘ als wertneutraler Stilbegriff, wie ihn Stefan Matuschek vorschlägt, verbindet weite Teile des Bedeutungsfeldes, ohne die negative Konnotation zu übernehmen. Brochs Ansatz hingegen wirft viel von dem über Bord, was man gemeinhin mit dem Begriff verbindet, um ihn stattdessen mit mehreren Versatzstücken zu füllen und über die Stilbezeichnung hinauszuführen. Die ausgeprägt kulturhermeneutische Dimension seines ,Klassizismus‘ könnte der Sache vielleicht den passenderen Namen verleihen: Kulturhermeneutik.

Titelbild

Jan Broch: Literarischer Klassizismus.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
220 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826048234

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