Leben mit und durch Gewalt

Jérôme Ferraris meisterhaftes Psychogramm französischer Algerienkämpfer

Von Simon HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Und meine Seele ließ ich zurück – ein Titel, der Dunkles verheißt, ein Titel, der Fragen aufwirft: Wer ließ seine Seele zurück und warum? Und vor allem: Was heißt das überhaupt, seine Seele zurückzulassen? Schon in den Anfangssätzen des 2010 im französischen Original unter dem Titel Oú j’ai laissé mon âme erschienenen Romans erhält der Leser hierauf erste Antworten. Er erfährt vom Tod eines Gefangenen und von einem Capitaine der französischen Armee, über den plötzlich „die Nacht der Verwirrung und Verlassenheit“ hereinbricht, was sich für ihn wie der Verlust der eigenen Seele anfühlt. Insbesondere die Figur dieses Capitaines nutzt Autor Jérôme Ferrari zur Erörterung der zentralen Frage seines Romans: Wie verändern ein dauerhaftes Leben im Krieg und die Macht, über den Tod anderer Menschen entscheiden zu können, Individuen in ihrem Innersten? Was bedeutet es also, wenn man tagtäglich mit und in letzter Konsequenz durch Gewalt lebt? Schließlich ist die ganze Existenz der Protagonisten, wie von Beginn an deutlich wird, Produkt des Krieges und der Gewaltanwendung.

Die Folie, auf der sich Ferrari mit dieser Problemstellung auseinandersetzt, ist der Algerienkrieg der Jahre 1954-1962. Ein Großteil der Handlung spielt an wenigen Tagen im März 1957. Diese zeitliche Verortung ist für das Verständnis des Romans von elementarer Bedeutung. Seit Ende 1956 ging die algerische Unabhängigkeitsbewegung dazu über, den Krieg zunehmend vom Land in die Stadt nach Algier zu verlagern. Terroristische Aktionen der Nationalen Befreiungsarmee (ALN) richteten sich nicht nur gegen militärische Ziele, sondern auch gegen Zivilisten. Die französischen Streitkräfte antworteten hierauf mit äußerster Brutalität. Ihre Strategie wurde als französische Doktrin bekannt, zu der Massenverhaftungen, Folter und illegale Hinrichtungen gehörten.

Auf all diese Verfahren stößt der Leser nun auch in Und meine Seele ließ ich zurück. Dabei erfährt er, was die Gewaltanwendung nicht nur bei den Opfern anrichtet, sondern auch bei den Tätern. Dies gilt insbesondere für die Hauptfigur des Romans, den französischen Capitaine André Degorce. Er ist ein Meister des Verhörs. Kalkulierend wechseln sich bei ihm menschliche Wärme, psychischer Terror und physische Folter ab. Mit dieser Strategie hat er stets Erfolg. Ein Gefangener nach dem anderen beginnt bei Degorce und seinen Leuten zu reden und weitere Mitglieder der ALN zu verraten. Schließlich gelingt es ihm sogar, Tahar, einen führenden Colonel der ALN, gefangen nehmen zu lassen. Bei Degorce stellt sich jedoch keine Befriedigung ein. Ganz im Gegenteil werden grundsätzliche Zweifel am eigenen Tun, die er schon zuvor gehegt hatte, weiter gestärkt. Degorce beschäftigt die Frage, ob seine Handlungen wirklich dem Ziel dienen, Terrorakte zu vermeiden, oder ob sie eher Gewaltfantasien, Erschöpfungszuständen oder einfach der Eingebundenheit in ein System geschuldet sind, das auf Gewalt basiert und das von dieser konstituiert wird.

Wie total diese Eingebundenheit ist, wird Degorce bewusst, als er vom Tod Tahars erfährt. Anders als ihm sein Vorgesetzter zugesichert hatte, wurde Tahar nicht nach Frankreich überstellt, sondern von einem französischen Sonderkommando umgebracht. Degorce ist also, „ohne es zu wissen, […] Komplize eines Verbrechens geworden.“ Alles, was er zuvor geahnt hatte, wird ihm nun zur bitteren Gewissheit: Weder schützen ihn eigene strenge moralische Vorgaben davor, Teil eines gewalttätigen Systems zu sein. Noch hat seine ursprüngliche Entscheidung, als Soldat gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu kämpfen, die Welt zu einem besseren Platz gemacht. Ganz im Gegenteil: „Er hat in die Welt all das eintreten lassen, was er aus ihr hatte verjagen wollen.“

Ferrari plausibilisiert Degorces innere Konflikte über dessen Biografie. Er entwirft ihn zunächst als äußerst begabten Jugendlichen, der den Traum verfolgt, später als Mathematiker zu leben. Die Mathematik gewährt Degorce Zugang „zu einer ewigen, unveränderlichen, unendlichen Welt, ohne dass es nötig wäre, auf das Jüngste Gericht zu warten.“

Degorces Begeisterung für diese Welt resultiert aus drei Qualitäten: Die Mathematik schenkt Orientierung, indem sie ihm ein (berufliches) Aufgabenfeld zuweist. Zudem sorgt sie für permanente Abwechslung, da sie – obwohl auf den ersten Blick ein begrenzter Kosmos – unbegrenzte Forschungsfelder bietet. Und schließlich nutzt Degorce die Mathematik auch noch dazu, eine persönliche Überzeugung beziehungsweise Ahnung abzusichern: „Die [mathematischen] Beweise dienten ihm zu nichts anderem als der Bestätigung dessen, was er bereits geahnt hatte, und er achtete darauf, dass sie stets von besonderer Eleganz waren, rein, konzise, hell strahlend, denn er wusste, dass Wahrheit und Schönheit gemeinsam entdeckt werden müssen und dass die eine ohne die andere wertlos ist.“

Sein mathematikzentrierter Lebensentwurf nimmt aber Schaden, als Degorce mit den nationalsozialistischen Schrecken konfrontiert wird. Angesichts der herrschenden Gewalt erscheint es ihm als Sünde, sich weiterhin nur auf die Mathematik zu konzentrieren. Als Konsequenz schließt sich Degorce der Résistance an. Er wird aber verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Dort gelingt es ihm zwar, zu überleben; sein altes Ich hat er nun aber endgültig verloren: „Mit der Rückkehr aus Buchenwald war ein der Mathematik gewidmetes Leben nicht mehr vorstellbar gewesen.“

Trotzdem lässt sich Degorces weitere Biografie nur aus seiner Vergangenheit heraus verstehen. Er entscheidet sich nämlich, Soldat zu werden, um dafür zu kämpfen, dass zumindest andere die Chance haben, in Frieden und Übereinstimmung mit ihren ganz persönlichen Interessen zu leben: „eine militärische Karriere […] drängte sich ihm mit absoluter Notwendigkeit auf. Die Möglichkeit von Schönheit musste bewahrt werden, das war alles, was von Bedeutung war, selbst wenn dies heißen sollte, dass er sich von ihr abwenden musste und davon abzusehen hatte, sich an ihr zu erfreuen.“ Zudem schenkt ihm das Militär durch die Formulierung klarer operativer Ziele und eines strengen Verhaltens- und Regelkatalogs genau jene Sicherheit, die ihm zuvor die Mathematik geboten hatte.

Zunächst kämpft Degorce in Indochina, wo er sich jedoch bald wieder der Herausforderung ausgesetzt sieht, in Gefangenschaft zu überleben. Das Algerien-Erlebnis ist hiervon radikal unterschieden. Degorce tauscht die Rollen. Aus dem Häftling wird nun der Verhaftende und Verhörende. Degorce vollzieht spätestens jetzt eine weitere Transformation, die von ihm genau registriert wird: aus dem von der Mathematik begeisterten Jugendlichen, der dann hoffte, als Soldat für das Schöne zu kämpfen, wird nun etwas Drittes: Degorce erkennt sich selbst als Individuum wieder, das durch die Konfrontation mit und die eigene Anwendung von Gewalt neu geboren wurde. Er registriert, dass seine Handlungen weniger seinen ursprünglichen Idealen und Zielen folgen, sondern der ganz eigenen Logik des Krieges. Degorce verlängert genau „den Schrecken und Tod, den er eigentlich hat bekämpfen wollen.“ Damit gibt Degorce ausgerechnet das preis, was ihn zuvor in seinem Innersten ausgemacht hatte – nämlich die Liebe zum Leben und zur Schönheit. Daher ist er überzeugt, dass „seine Seele […] irgendwo, weit, weit hinter ihm“ ruht.

Die spezifische Situation, in der er sich befindet, scheint er mit den anderen französischen Soldaten zu teilen: „Sie alle haben die gleiche Verwandlung erduldet und sind Brüder geworden.“ Und doch existiert, zumindest zu einem großen Teil seiner Mitarbeiter, ein wesentlicher Unterschied. Niemand zeigt vergleichbare Zweifel am eigenen Tun. Beispielhaft ist die Position von Lieutenant Horace Andreani, mit dem Degorce schon in Indochina gekämpft hatte. Andreani fungiert in einigen Kapiteln des Romans als Erzähler. In diesen arbeitet er sich an der Einstellung Degorces ab und stellt ihr seine eigene Position gegenüber: bei ihm herrscht Eindeutigkeit statt Zweifel und Brutalität statt (zumindest partiellem) Respekt im Umgang mit dem Gegner. Aufkommende Zweifel am eigenen Tun wischt er mit einem Todschlagargument zur Seite. In letzter Konsequenz, so seine Überzeugung, sei doch „alles […] so schnell vergessen“ und vor allem „so belanglos“.

Interessant ist nun, dass Andreani trotz dieser Haltung mit Degorce sympathisiert. In seinem Verhältnis zum Capitaine mischen sich Hass und Liebe. Obwohl sich Andreani sowohl in seinen Argumenten als auch in seinen Handlungen von Degorce abgrenzt, ist er von ihm fasziniert. Er spricht es zwar nicht offen aus. Degorce scheint ihm aber aufgrund seiner Haltung, die positiven Potentiale des Menschen zu zeigen. Sollte Degorce von diesen lassen und somit die Position seines Lieutenants annehmen, wären sie beide, wie Andreani bekennt, endgültig „in der Hölle angekommen“.

Meisterhaft entwirft Jérôme Ferrari in seinem kurzen Roman das Psychogramm zweier Männer, deren ganze Existenz durch den Krieg geprägt wurde. Dabei werden Fragen aufgeworfen, die weit über die spezielle Situation der Protagonisten hinausgehen: was konstituiert Menschen, wie werden Individuen durch äußere Einflüsse geprägt und – nicht zuletzt – welche negativen Potentiale schlummern in uns allen? Und meine Seele ließ ich zurück ist ein düsteres, aber sehr lohnenswertes Leseerlebnis, bei dem immer wieder zu erkennen ist, dass Jérôme Ferrari nicht nur als Autor arbeitet, sondern auch als Philosophielehrer.

Titelbild

Jérôme Ferrari: Und meine Seele ließ ich zurück. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christian Ruzicska.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2011.
152 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783905951103

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