Ausgelöscht

Amnesie im deutschen Film: „Schenk mir dein Herz“ und „Vergiss mein Ich“

Von Ann-Christine ReehRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ann-Christine Reeh

Gedächtnisverlust ist ein altbekanntes, genreübergreifendes Thema im Film. Ob in Form eines Filmrisses wie in Hollywood-Klamauk-Komödien à la „Hangover“ (2009, Todd Phillips), als futuristisch-medizinischer Eingriff wie in der Tragikomödie „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (2004, Michel Gondry) – in Deutschland wahrscheinlich besser bekannt unter dem wenig gelungenen Titel „Vergiss mein nicht“ – oder als Folge einer Kopfverletzung wie im Thriller-Klassiker „Memento“ (2000, Christopher Nolan). Auch im Programm des Festivals des deutschen Films 2014 ließen sich Filme finden, in denen sich die Protagonisten einer Amnesie stellen müssen.

Wieder mit dabei war die Tragikomödie „Schenk mir dein Herz“, die 2011 das Festival eröffnen durfte. Diesmal lief das Kino-Debut von Regisseurin Nicole Weegmann in der Kategorie „Wiedersehen“, in der anlässlich des 10-jährigen Jubiläums die beliebtesten Filme der vergangenen Jahre gezeigt wurden. In dem Film verliert der egozentrische Schlagerstar Alexander Ludwig (Peter Lohmeier) nach einem Herzinfarkt und einer damit einhergehenden Sauerstoffunterversorgung seines Gehirns seine Erinnerungen an die letzten 10 Jahre. Seine jetzige Frau Maria (Mina Tander) ist eine Fremde für ihn, während er sich noch immer in einer Ehe mit Ex-Frau Edda (Catrin Striebeck) wähnt und das ehemals gemeinsame Haus im Geiste noch bewohnt. Auch sein Kurzzeitgedächtnis ist beschädigt, so dass er sich neue Informationen nicht merken kann. Hilfe soll er in einer Reha-Klinik erhalten. Gewappnet mit einem Notizbuch für alle merkenswerten Details, versucht er sich in der neuen Umgebung, die er wiederholt für ein Hotel hält, zurecht zu finden. Schnell trifft er den Pianisten Heinrich (Paul Kuhn) bei der Suche nach der Hotelbar, der ihn überredet mit ihm und seinen Kumpels eine Jazz-Kombo zu gründen und mit einem Auftritt eine alte Jazz-Bar vor dem Ruin zu retten. Doch Alexanders Kurzzeitgedächtnis erschwert nicht nur das Vorhaben der Musiker, sondern gefährdet auch seine Beziehung zu Maria.

Überraschend ernst gestaltet sich die erste Hälfte des Films. Anstatt sich alberner Schlagerklischees zu bedienen, zeigt Regisseurin Weegmann Alexander als sehr verletzliche Figur. Der Zuschauer kann verfolgen, wie Alexander von den kleinsten Dingen überfordert ist, wie ihm Tag für Tag seine Erinnerungen entgleiten und er wieder von vorne beginnen muss. Anstatt zur Therapiestunde geht er zum Beispiel wiederholt zu Ex-Frau Edda und dem Haus, das er schon lange nicht mehr bewohnt. Was ihn scheinbar treibt, ist der Wunsch nach dem Altbekannten, nach einem Zuhause – und danach, sich dort einfach mal auf das alte Sofa setzen zu können. Peter Lohmeier gelingt es, seinem Alexander eine Leere und Hilflosigkeit zu verleihen, ohne sich dabei großer Gestik und Mimik bedienen zu müssen. Sein reduziertes Spiel macht ihn glaubhaft und regt zum Mitfühlen an. Einen humoristischen Ausgleich schaffen dagegen Paul Kuhn und Co als rüstige Musikerkombo. Wie Babysitter kümmern sie sich um den verwirrten Alexander und starten sogar einen nächtlichen Ausbruch aus der Reha-Klinik mit dem „Schlagerfuzzi“. So changiert „Schenk mir dein Herz“ gekonnt zwischen traurig-ernsten und lustig-heiteren Momenten.

Leider merkt man dem Film, der insgesamt durchaus unterhaltsam und charmant ist, schnell an, dass er ursprünglich fürs Fernsehen konzipiert ist. Weegmann bedient sich keinerlei mutiger Schnitte oder Montagen. Alles kommt brav in der Ästhetik eines öffentlich-rechtlichen Spielfilms daher. Im gemächlichen Erzählfluss steuert der Zuschauer auf das mainstreamige Happy End zu. Am Ende haben sich alle lieb und die Konflikte (Eddas kurzzeitiger Versuch der Rache, Marias Wille zur Trennung, enttäuschte Schlagerfans und ein entfremdeter Sohn) werden durch die heilende Kraft der Musik gelöst. Das ist nett, aber auch nicht mehr. Fragen der eigenen Identität, die Alexander im Laufe des Films durchaus stellt, werden dem Zuschauer nur in spärlichen Portiönchen vorgesetzt. Man will ihn scheinbar nicht überfordern. Dabei stellt sich wie von selbst die Frage, wie Alexanders früheres Ich, ein arroganter, geldgeiler Schlagerstar wie er im Buche steht, mit dem jetzt sehr sanften und netten Burschen, den man über 90 Minuten Spielzeit zu sehen bekommt, zusammenpasst. Inwieweit unsere Identitäten mit unseren Erinnerungen verknüpft sind und welche Chancen ein Gedächtnisverlust für die eigene Person birgt, sind Themen, die Weegmann nicht stellen will. Schade.

Auch „Vergiss mein Ich“ von Regisseur und Drehbuchautor Jan Schomburg widmet sich dem Thema Amnesie. Lena (Maria Schrader) verliert aufgrund einer unentdeckten Gehirnhautentzündung plötzlich ihre Erinnerungen. Ihre retrograde Amnesie löscht nicht nur ihr biografisches Gedächtnis, sondern auch ihre Fähigkeit Emotionen zu erkennen. Lenas Mann Tore (Johannes Krisch) und ihrer Freunde (unter anderem Sandra Hüller) versuchen ihr zu helfen, wieder die Person zu werden, die sie war: eine erfolgreiche, intellektuelle Gender-Forscherin mit einer Vorliebe für schwarz-weiße Kleidung. Doch schnell merkt sie, dass ihre alte Persönlichkeit nicht mehr zu ihr passt, sie unglücklich macht, und sie beginnt ein neues Ich zu entwickeln.

Anders als Weegmann traut sich Schomburg mit Hilfe der interessanten Ausgangsposition – ein wahrer Vorfall diente ihm als Inspiration – die Konzeption menschlicher Identitäten zu hinterfragen. Spielen wir alle nur eine Rolle, um die Erwartungen der anderen zu erfüllen? Und was passiert, wenn einem das Skript für diese Rolle verloren geht? Kann man einfach wieder in die alte Identitätshülle schlüpfen, den Text neu lernen? Durch die Figur der Lena erforscht Schomburg diese Fragen. Mit Fotografien, Filmaufnahmen und Tagebuchaufzeichnungen versucht Lena ihr altes Ich wiederzufinden. Aber schnell wird deutlich, dass ihr vorheriges Leben nur eine Narration, eine Fiktion für sie ist. Mit kindlichem Eifer macht sie sich daran, ihre Rolle in diesem Theaterstück Leben zu lernen, um die anderen, ihren Mann, ihre Freunde, glücklich zu machen. So sitzt sie vor einer alten Videoaufnahme von sich und ahmt immer wieder ihr eigenes Lachen nach. Bei einem Abend unter Freunden präsentiert sie in einer Art kleinen Aufführung den Anfang einer alten Lesung, die sie zwar Wort für Wort auswendig gelernt hat, jedoch ohne deren Inhalt zu verstehen. Der Versuch ihr altes Leben wiederaufzunehmen, ist lediglich eine Inszenierung, durch die sie ihre Identität jedoch nicht wieder herstellen kann.

Dass Lena nicht mehr dieselbe ist, macht Schomburg im Laufe der Handlung immer wieder durch Details deutlich. Wunderbar ist zum Beispiel die Szene, in der Lena den Kölner Dom sieht. „Können wir da hoch?“, fragt sie ihren Mann, der verneinen muss. Sie habe Höhenangst. Doch von Höhenangst hat die neue Lena noch nie gehört. Auch ihr Kleidungsstil wechselt. Ihre Vorliebe für schwarz-weiße, eher androgyne Kleidung wird durch den Kauf eines rosafarbenen Paillettentops in Schmetterlingsform ausgehebelt. Diese Transformation meistert Maria Schrader mit Bravour. Wie ein Kind, das alles neu erlernen muss, spielt sie ihre Lena, voll ernster Neugier und großer Naivität. Für sie ist die Welt unbekannt und voller Entdeckungen. Da ist es auch nur konsequent, dass Schomburg seine Protagonistin nicht nur Emotionen, sondern auch Wertesysteme wieder erlernen lässt. Wie ein junges Mädchen verliebt sie sich in Roman (gespielt vom zurzeit omnipräsenten Ronald Zehrfeld), eine Zufallsbekanntschaft, und erfährt mit ihm nicht nur die Sexualität, sondern auch das Regel- und Moralsystem Ehe neu. Unverblümt erzählt Lena beim Nachhausekommen von ihrem Seitensprung; sie versteht die Amoralität hinter ihrer Tat nicht. Und Ehemann Tore konstatiert: „Du kannst Lena nicht einfach spielen.“

Obwohl beide Filme einen Gedächtnisverlust als Ausgangspunkt der Handlung haben, nutzt jedoch nur „Vergiss mein Ich“ sein Potential. Während es sich bei „Schenk mir dein Herz“ lediglich um eine Krankheitsgeschichte handelt, die den Heilungsprozess des Protagonisten in den Vordergrund stellt, hinterfragt Schomburg dagegen die Konzeption von Identität durch Erinnertes und Erlerntes. Daher war die Vergabe des diesjährigen Filmkunstpreises an Schomburg und sein Team auch mehr als verdient.

„Schenk mir dein Herz“ (Deutschland 2010)
Regie: Nicole Weegmann
Drehbuch: Ruth Toma
Darsteller: Peter Lohmeyer, Paul Kuhn, Mina Tander, Hannes Hellmann, Catrin Striebeck
Verleih: Wüste Film GmbH
Laufzeit: 92 Minuten

„Vergiss mein ich“ (Deutschland 2014)
Regie und Drehbuch: Jan Schomburg
Darsteller: Maria Schrader, Johannes Krisch, Ronald Zehrfeld, Sandra Hüller
Verleih: Real Fiction Verleih
Laufzeit: 95 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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