Ein Ende der (Sprach-)Musik steht nicht zu befürchten

In Jürg Halters neuem Gedichtband präsentiert sich der MC als MV

Von Maren JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maren Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Knapp ein Jahrzehnt ist vergangen, seit der (Gotthabeihnselig!) traditionsreiche, 1941 von Egon Ammann und seiner Frau Marie Luise Flammersfeld begründete Schweizer Ammann Verlag Jürg Halters ersten Gedichtband „Ich habe die Welt berührt“ (2005) veröffentlichte; drei Jahre später folgte mit „Nichts, das mich hält“ ein zweiter im selben Verlag, der 2010 mit dem Hinweis auf die schwierige Marktsituation und das fortgeschrittene Alter der Verlagsleitung aufgelöst wurde.

Nun hat sich also der Göttinger Wallstein Verlag, der verdienstvollerweise – und dieses Verdienst ist seit 2005 fest mit der Person Thorsten Ahrends verbunden – manch einem Lyriker und mancher Lyrikerin der Gegenwart ein Obdach bietet, des dritten Gedichtbandes von Jürg Halter angenommen.

Der Schweizer, der ein Studium an der Kunsthochschule Bern absolviert hat, ist nicht die einzige Stimme der deutschsprachigen Gegenwartslyrik, die sich auf den Grenzgebieten von Musik und Performance-Kunst vernehmbar gemacht hat (man denke an Michael Lentz und Nora Gomringer, die beide ihre frühsten Meriten auf dem kompetitiven Feld der Slam Poetry erworben haben) – aber er ist möglicherweise der einzige unter diesen Grenzgängern, der mit zwei Chartplatzierungen aufwarten kann: „Dark Angel“ erreichte 2006 Platz 98 und „Rebellion Alltag“ im März Platz 38 der Schweizer Albumcharts. Unter dem Namen Kutti MC hat sich Halter mit fünf Alben, die parallel zu seiner schriftstellerischen Produktion von 2005 bis heute entstanden, als Rapper und Sprechsänger hervorgetan; gleich zwei Homepages – www.juerghalter.com und www.kuttimc.ch – informieren daher über die Doppelexistenz des 1980 Geborenen.

Ohne Zweifel, die akustische Auslotung und Transzendierung des Sprachmaterials wirkt auch auf die im Druck erschienenen Texte zurück. Aber funktionieren sie auch ohne den eindringlichen Vortrag des Autors, von dem man sich im fabelhaften Forum lyrikline.org (einer Initiative der literaturwerkstatt Berlin, die von internationalen Autoren gesprochene und übersetzte Gedichtsammlungen bereitstellt) einen Hör-Eindruck verschaffen kann? Auch ohne die sparsame,  aber originelle und wirkungsvolle audiovisuelle Unterstützung, die seine ‚Poetry Clips’ auf YouTube erhalten? Kann dem Master of Ceremony eine lyrische Meisterschaft auch auf dem traditionellen Gebiet der Verskunst zugesprochen werden?

Die Überschriften der sieben Kapitel deuten auf die enge Verbindung hin, die Musik und Text, Laut und Schrift, Sprechen und Schreiben bei Halter eingehen: „Im Ohr ein Lied über das Ende einer Freundschaft“ heißt eines, „Das schon Gesagte ist das noch Sprechende“ ein anderes. Die Anleihen aus Rap und HipHop, die Annäherung des Sprechens an Formen der Musik sind allgegenwärtig in Halters Gedichten; mal sind es eindringliche Wiederholungsstrukturen (in „So leicht“), mal die staccatohaften Kurzsätze („Wir stoßen weiter vor.
 Mehr ist nicht genug.
 Alles ist das Ziel.“), mal anaphorische Versanfänge, wie in „Alles andere ist dummes Geschwätz“, einer grimmigen Hymne an den Mammon, der den Künstler in die Knechtschaft treibt. Sie trägt die Vortragsanweisung im Titel: „(zu singen)“.

Traditionelle Metren und Formen oder gar Reime gibt es nicht in diesem Band. Halter bevorzugt den freien Vers, der bei ihm häufig recht kurz ist und mit der Dynamik des Enjambements spielt; die meisten Gedichte sind in Versgruppen variabler Länge arrangiert, und wenn sich einmal ein Gedicht („Morgenritual“) auffällig in (selbstverständlich reimlosen) Verspaaren präsentiert, wird dies sogleich Gegenstand poetologischer Reflexion:

„Weshalb fasse ich die Strophen jeweils in zwei Zeilen?

Ist es aus Gewohnheit oder weil ich mich fürchte,
dass sie sonst einen anderen Lauf nähmen?“

Kürze und Verdichtung sind für Halter zugleich leitendes Formprinzip – etwa im gleichermaßen platten wie originellen (und wahren) – Kürzestpoem „Universum (Eine Zusammenfassung)“, das hier in voller Länge abgedruckt sei: „Wird / stirbt“ – oder im ungleich längeren poetologischen (im Blocksatz und mit ‚unlyrischem’ Titel daherkommenden) Gedicht „Welch ein Missverständnis von Poesie ist das denn bitte schön!“, das mit den Zeilen beginnt

„Als kündigte ich mit jedem weiteren Zeichen einem
weiteren sympathischen Angestellten einer eingebil-
deten Werbeagentur die Stelle, so vorsichtig schreibe
ich dieses Gedicht – kein Zeichen zuviel darf es sein.“

Wenige Verse später übernimmt jedoch das Gedicht die Regie, schreibt sich ohne den Autor weiter fort, so dass letzterem nichts übrigbleibt, als „im Nebenzimmer“ „schweigend aus dem Fenster der Agentur in [s]einem vermieteten Kopf“ zu sehen und dem Schluss seines Gedichtes zu lauschen, das nun „für sich alleine“ spricht.

Poetologisch ist Halter ‚at his best’; ob sein Pathos dagegen funktioniert, sei dahingestellt („Wir rufen laut nach dem perfekten Tag, vor dem wir uns im Stillen fürchten“). Freunde der kühnen Metapher werden angesichts von Wendungen wie „unsere im Zeitraffer explodierenden Herzen“ halbwegs auf ihre Kosten kommen.

Nicht wenige Gedichte haben einen erzählenden Duktus, manche beschreiben kleine Szenarien oder Fotos; in vielen klingt ‚Tradition’ an: „Der Mensch erscheint im Holozän und erscheint noch immer“ heißt etwa die dritte Abteilung, in Anspielung auf die Erzählung Max Frischs – bei Halter gerät sie zum lakonisch-lyrischen Aphorismus:

„Lass uns was trinken gehen,
rückgängig machen
lässt’s sich ohnehin nicht mehr.“

Überhaupt ist der Band durchsetzt von Zitaten und Anspielungen, aus denen sich (würde sich ein Philologe ans Werk begeben, sie systematisch zu sammeln und auszuwerten) wohl der musikalisch-literarische Kosmos Halters kartographieren ließe – aber auch seine ganz eigene Art des spielerischen Umgangs mit intertextuellen Impulsen. „Singin’ in the Rain (Outtake)“ ist eines der Gedichte überschrieben, das die legendäre Filmszene leichtfüßig in Form und Bildlichkeit der Lyrik überführt und (wenig überraschend) die Widmung „Für Gene Kelly“ trägt. „1994“ wiederum reflektiert – in etwas sentimentaler ‚Du’-Ansprache („Ich glaubte dich zu verstehen und wusste, du hättest mich verstanden“) – über den Suizid Kurt Cobains, dessen Songs wie „Where Did You Sleep Last Night?“ mit dem geschrieenen Refrain „My girl, my girl, don‘t lie to me“ vermutlich fester Bestandteil der Tonspur einer Jugend (auch derjenigen des damals vierzehnjährigen Autors) gewesen sein mögen. Neil Young darf das Motto beisteuern „It’s better to burn out than to fade away“ (aus „Hey Hey, My My“) – und Georg Kreislers „Hat jemand hier vielleicht Mat[t]hias gesehen?“ wird zum Pastiche „Unter großem Schutz“.

‚Eminent politisch’ ist dieser Autor nicht, bestenfalls in einem guten, aber unspezifischen Sinn ‚kulturkritisch’ oder ‚medienkritisch’; auch wenn er mit seinem Heimatland und dessen politischer Indifferenz „Unter einer Käsegelocke“ hart ins Gericht geht („Die Schweiz, ein Sandkorn“), so lässt seine typographisch auffällige, gewiss als ironisch zu verstehende Selbstzensur in „Die 1. Welt spricht“ den Leser doch ein wenig rat- und richtungslos zurück.

Halters Gedichte sind alles andere als hermetisch; aus ihnen spricht ein selbstbewusstes Ich, das einen unverwandt ansieht, wie ihr Autor den Zuschauer mancher seiner Poetry Clips. Folgerichtig lautet die eigensinnig-charmante Widmung des Bändchens: „Für sich“. Wohlgemerkt: „Für sich“ – nicht etwa „Für mich“! Anders als viele Gegenwartslyriker hat Halter sein Publikum im Blick, spielt seine Bühnenerfahrung aus und liest die erhoffte ‚crowd’ wie ein MC oder DJ.

Jedem potenziellen (Neu-)Leser sei dazu geraten, sich – vor oder während der Lektüre – einige Minuten und Bytes zu nehmen, um einen von Halters YouTube-Clips anzusehen (etwa zu dem Gedicht „Erdwissenschaften“ aus dem hier besprochenen Band) oder lyrikline.org aufzurufen und sich Halters Vortrag anzuhören – etwa von „Bitte, ich versuche zu sprechen“ aus „Ich habe die Welt berührt“ (Zürich: Ammann, 2005). Mögen manche Gedichte auf den ersten Blick auch noch so fahl und spröde anmuten – hat man einmal die eigenwillige berndeutsche Artikulation des Autors in ihrer sanften Monotonie im Ohr, beginnen sie manchmal zu oszillieren, zu sprechen oder leise zu singen. (Manchmal bleiben sie allerdings auch auf der Seite kleben, hölzern gedrechselt und stumm.) Die behutsame, für hochdeutsch Sozialisierte exotisch (und provozierend langsam) anmutende berndeutsche Mundart, in der Halter jedes Wort sorgsam abzuwägen scheint, jeden Laut auf dem Weg zwischen poetischer Schaltzentrale und Mundraum präzise bearbeitet, bleibt hängen – und verändert die künftigen Lektüren nachhaltig. Print-Puristen sei es selbstredend freigestellt, auch hinkünftig auf die audiovisuelle Leseanweisung zu verzichten – und die Partituren als Kunstwerke zu goutieren.

Das letzte Wort sei dem Gedicht „Mein Beitrag zum Weltkulturerbe“ überlassen, in dem Halter in ironischer Gigantomanie das Dilemma der Gegenwartslyrik ausspricht, die ihr Dasein im Spannungsfeld zwischen dem Bewusstsein der eigenen Nischenexistenz und emphatischer Selbstbehauptung führt. Fast schon anrührend mutet daher die Schlusswendung an, die plötzlich in gänzlich unironischem Trotz dasteht und nicht anders kann:

„Ich wünsche diesem Gedicht Millionen von Lesern
in allen möglichen Sprachen.
Ich wünsche, dass dieses Gedicht fortgeschrieben wird
bis in die fernste Zukunft;
mindestens so lange, wie es die Menschen gibt,
soll dieses Gedicht hier rezitiert werden.
Ich denke, dies nicht zu erhoffen
ist kaum weniger vermessen als ein Gedicht
überhaupt zu veröffentlichen.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jürg Halter: Wir fürchten das Ende der Musik. Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
72 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783835314221

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