Ein Aufblitzen aus einer versunkenen intellektuellen Welt

Robert Warshows Essaysammlung „Die unmittelbare Erfahrung“ gibt Einblicke in die Kultur des 20. Jahrhunderts

Von Jörg SpäterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Später

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Mann sieht einen Film, und der Kritiker muss anerkennen, dass er dieser Mann ist.“ Mit diesem schlichten Satz hat Robert Warshow zu seiner Zeit an seinem Ort – New York, Mitte der 1950er-Jahre – für Aufsehen gesorgt und sich einen Namen gemacht. Einen Namen, der allerdings längst verblasst ist. Das hat den kleinen Verlag Vorwerk 8 nicht davon abgehalten, seine Filmkritiken und Essays zur Populärkultur in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zu publizieren, in der und an dem diese Textsammlung fremd, wenn nicht sogar seltsam wirken kann.

Warshow (1917–1955) gehörte zu den „New York Intellectuals“, einem losen Zirkel von Intellektuellen, die sich um die Zeitschriften „Partisan Review“, „Commentary“ und „Dissent“ gruppierten. Einen Kreis bildeten sie deshalb, weil sie sich aufeinander bezogen, ob freundlich oder feindlich, in jedem Fall mit Leidenschaft und Verve wie in einer Familie. Meist handelte es sich bei den Mitgliedern um die rebellischen Söhne und Töchter jüdischer Einwanderer, die sich zum Kommunismus hingezogen fühlten. In der kulturellen Arena waren sie avantgardistische Modernisten, in der politischen revolutionäre Gegner Stalins, in der Regel Trotzkisten. Nach dem Weltkrieg mutierten die einstigen Berufspartisanen und -dissidenten unter dem Eindruck des Kalten Krieges, ihrer Feindschaft zur Sowjetunion und eines McCarthy zuhause zu einem mehr oder weniger liberalen Antikommunismus. Und aus ihren Reihen entwuchsen in den 1970er-Jahren die berühmten „Neocons“, kaum minder radikal als die jugendlichen Kommunisten.

Zu dieser Herde von unabhängigen Denkern gehörte als Redakteur der Zeitschrift „Commentary“ Robert Warshow. Den Satz über den Kritiker, der anerkennen müsse, dass er ein Zuschauer sei, der nicht nur Zensuren über ein Kunstwerk erteile, sondern von dem Film, den er schaut, in Bann gezogen sei und darüber schreiben solle, stand quer zur damaligen Filmästhetik und Filmsoziologie. Die seriöse Filmkritik wollte entweder die Ebenbürtigkeit des Films mit den älteren Künsten unter Beweis stellen, wobei sie versuchte, einen klaren Begriff des Filmischen zu entwickeln – oder sie hoffte, über das Medium Film sozialpsychologische Einsichten zu gewinnen. Da zwischen dem Kino und dem gesellschaftlichen Leben direkte Verbindungen bestehen, können sich in Filmen soziale Umstände spiegeln, etwa „Tagträume der Gesellschaft“ (Siegfried Kracauer).

Der ästhetische Kritiker sagte: ich sehe mir nicht Filme an, sondern Kunst. Der soziologische Kritiker sagte: Nicht ich gehe ins Kino, sondern das Publikum. Was sowohl bei Ästhetik als auch bei der Soziologie auf der Strecke blieb, war jene „unmittelbare Erfahrung“, die dem Buch mit Warshows Essays den Namen gibt. „Es ist die eigentliche, die unmittelbare Erfahrung, Filme genauso zu sehen und auf sie zu reagieren, wie es die meisten von uns tun. Im Zentrum jeder wirklich gelungenen Kritik steht immer ein bestimmter Mann, der ein Buch liest, der ein Bild betrachtet, der sich einen Film ansieht.“ Filmeschauen war für Warshow wie Fischen, Trinken und Baseballspielen. Außerdem plädierte er dafür, „diesen ganzen Unsinn ernst zu nehmen“.

In diesem Insistieren auf „Erfahrung“ und in seinem un-, ja antiakademischen Habitus erinnert Warshow an Walter Benjamin, der den Erfahrungsverlust als zentrales Moment der modernen Gesellschaft ausgemacht hat. Das ist umso erstaunlicher, als dass Warshow Benjamin vermutlich nicht gekannt und sicher nicht gelesen hat, denn dessen Schriften wurden erst nach Warshows frühem und plötzlichem Tod neu aufgelegt. „Erfahrung“ war offenbar ein Zauberwort, das Intellektuelle in den 1930er- und 1940er-Jahren sowohl in Berlin als auch in Paris und New York beschworen. Freilich sind es andere Ingredienzen, die für Warshow jenen Mangel an Erfahrung verursachen. Seine Verlustgeschichte beleuchtet eben jene New Yorker Szene und die Probleme, die sie umtrieb. Erfahrungsverlust bedeutete für ihn Entfremdung von der Wirklichkeit, und damit meinte er die stalinistischen Kommunisten in Amerika, die ihre Urteilsfähigkeit zugunsten einer Parteiwahrheit, einer „organisierten Unaufrichtigkeit“ aufgegeben hätten; und er hatte die Massenkultur im Auge, welche die Dinge vereinfache und unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit steuere. Beides zusammen, „stalinistische Massenkultur“, sei das Erbe der 1930er-Jahre, der Todfeind des Intellektuellen.

Neben solchen Einblicken in das versunkene Milieu der „New York Intellectuals“ (unter anderem eine heute unheimlich anmutende Kritik der in der Todeszelle sitzenden Spione Ethel und Julius Rosenberg) bietet der Band geistreiche und humorige Essays über den amerikanischen Film, vor allem über den Gangster und Westerner als tragische Helden des modernen Lebens in Amerika. Höhepunkt sind sicherlich Warshows Texte über Charles Chaplin – im Rampenlicht dabei der Tramp und die Herren Verdoux und Calvero. Und natürlich das Publikum und der Kritiker, der die Filme sieht und den armen, liebenswerten Charlie liebt, ohne von ihm geliebt zu werden. Lesenswert sind auch Warshows Blicke auf den europäischen Kunstfilm und seine Reflexionen über das Judentum, nachdem es gerade beinahe vernichtet worden war.

Ein Kritiker liest ein Buch, dieser Kritiker bin ich und meine unmittelbare Erfahrung ist ein Staunen. Ein Staunen über ein fremdes, nicht mehr existierendes intellektuelles Milieu; über einen ungewohnten frischen Ton, der sofort Aufmerksamkeit weckt und jede Langeweile im Keim erstickt, und über Texte, die ein ambivalentes Lesevergnügen bieten: Denn neben aufregenden unkonventionellen Sätzen stehen immer wieder Passagen, denen man es auf dem ersten Blick anmerkt, dass sie Übersetzungen sind. Dem Lektorat – so sich der kleine Verlag eines leisten konnte – sind zudem etwas zu viele Fehler entgangen. Die ungewöhnliche Gestaltung weiß dagegen zu gefallen. Diese Textsammlung ist eine schöne Überraschung, ein Aufblitzen aus einer versunkenen intellektuellen Welt.

Titelbild

Robert Warshow: Die unmittelbare Erfahrung. Filme, Comics, Theater und andere Aspekte der Populärkultur.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thekla Dannenberg.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2014.
256 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783940384645

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