Dinge, die endgültig verschwinden

Über Thomas Christens Debütroman „Der Abend vor der Nacht“

Von Dirk HaferkampRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Haferkamp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem 190 Seiten umfassenden Debütroman „Der Abend vor der Nacht“ erzählt Thomas Christen die Geschichte des Kunsthändlers Wilhelm Langhans, der aufgrund einer fortschreitenden Demenzerkrankung in ein Pflegeheim übersiedelt. Der Roman besteht hauptsächlich aus Rückblenden, die kunstvoll mit den Lebenswegen anderer Figuren, die für den Protagonisten eine wichtige Rolle spielen, verschachtelt sind. Der Leser wird schrittweise in eine bedrückende Welt überführt, in welcher Langhans aufgrund der Degeneration seines Gehirns die Wirklichkeit nicht mehr bewusst erleben, nicht mehr mit seinem eigenen Willen auf sie Einfluss nehmen kann. Er wird zur Marionette seiner selbst, gleitet ab in eine „unerreichbare Welt ohne Rückwege“, letztlich vorwiegend vom vegetativen Bereich des Körpers gesteuert. Auch „Halteseile aus einer nebligen Vergangenheit in eine neblige Gegenwart, damit das alltägliche Leben nicht abstürzt“, können dies nicht verhindern. Zwischendurch wird Langhans in klaren Momenten deutlich, dass es Dinge gibt, die endgültig verschwinden, „bis der Abend in die Nacht fällt“.

Langhans’ Frau Malin, die vor dem Protagonisten an einer Lungenentzündung stirbt, will ihrem Mann die schönen Momente ihres gemeinsamen Lebens noch einmal in Erinnerung rufen. Zu diesem Zweck hat sie vor ihrem Tod ein Tonband besprochen, dessen Nutzung nicht nur für Langhans, sondern auch für den Leser wie ein erkenntnistheoretischer Leitfaden wirkt: „Vielleicht weißt du manches nicht mehr. Aber deswegen werde ich es noch einmal erzählen, damit du dich wieder erinnern kannst.“ Zwei wichtige Momente der Erzählung werden in Malins Satz deutlich: die Sprache und die Erinnerung. Nur durch die Kraft der Worte und der Bilder, die Worte vor das innere Auge rufen, kann auch ein kranker Geist noch einmal für kurze Momente den Zauber des Lebens erfahren, oder wie Langhans selbst vor langer Zeit sagte: „[G]emeinsam erinnern, was wir erlebt haben und was wir noch einmal aussprechen müssen, damit es nicht verloren geht.“ Diese lyrisch anmutenden Intensivierungen des Prosagewebes bilden die starken Momente des Romans. Sie sind besonders eindrucksvoll in den traumartigen Sequenzen von Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung, die im Hain von Pierien bei Eleutherai mit Zeus zusammentrifft. Die mythischen Reminiszenzen, die an David Herbert Lawrences Kurzgeschichten erinnern, lassen Traum und Wirklichkeit ineinander übergehen. In Langhans’ zergehendem Gemüt werden am Ende der Erzählung Malin und Mnemosyne eins: „Sein Blick erfasst sie zärtlich. Sie setzt sich nieder. Ihr Blick ist ihm abgewandt. Klanglos zieht die Nacht auf die Berge, pflückt die Worte aus dem sterbenden Tag.“ Die Verbindung dieser mythischen Szene, die in ihrer seltenen Schönheit von der Unvergänglichkeit der Erinnerung kündet, die im traumhaften Bild geborgen ist, mit der schonungslosen Härte des dementen Daseins („Er sitzt im Rollstuhl und nässt in die Windel.“) machen den Text authentisch. So wie der „Satz […] einfach da [ist], wie ein Blitz in einem noch regenlosen, nahenden Gewitter“, so sind auch in Langhans’ Leben Schönheit und Todesnähe verwandte Dinge. Ein Mensch, der sein Dasein nicht mehr selbst bestimmen kann, ist auf diese Plötzlichkeiten angewiesen, weil sie ihm, wenn oft auch erschreckend, vom Leben künden, das durch seinen zergehenden Geist rinnt wie Wasser.

Dies sind die hervorstechenden Momente in Christens Roman: die poetische Durchdringung von geistigem Verlust, von vorbehaltloser Liebe und der existentiellen Bedeutung der Erinnerung, die das Leben selbst ist. Durch das Erinnern bleibt das gelebte Leben lebendig, ungeachtet der schweren Deformationen, welche die Krankheit mit sich bringt.

Titelbild

Thomas Christen: Der Abend vor der Nacht. Roman.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2012.
190 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783905951127

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