Melancholie des Abschieds

Esther Kinsky frischt in „Am Fluss“ ihre Erinnerungen an Ostlondon auf und findet eine Stadt, die an ihren Rändern ausfranst

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Osten Londons boomt. Im Gewirr von Reihenhäuschen und abgewrackten Gewerbearealen entstehen immer mehr glitzernde Bauten, die Wohnkomfort für neue Schichten verheißen. Und unter miefigen Gewölben taucht über Nacht eine hippe Szene-Bar auf. Ostlondon lässt noch Raum für kreative Initiativen und seine zentrumsnahen Brachen bieten sich für Gentrifizierungsprojekte an. Spätestens die Olympiade 2012 hat mit alten Lagerhallen, Schrottplätzen und Kleinindustrien ratzfatz aufgeräumt, um stattdessen eine urbane Freizeitzone mit Olympiapark zu errichten. Am Rande dieses Geländes fließt ein schmaler Fluss, der zugleich Kanal ist. Nicht die herrschaftliche Themse, die zwischen Westminster und Tower Bridge die Touristen anzieht, repräsentiert die Metropole London, sondern der River Lea. Er bildet so etwas wie eine imaginäre Stadtgrenze. Diesen River Lea rauf und runter wandert die Erzählerin in Esther Kinskys Roman „Am Fluss“.

Sie wohnt im chassidisch geprägten Stamford Hill, hinter dem Springfield Park, der das Quartier über einen Abhang mit dem Lea Valley verbindet. Von der Anhöhe des Parks aus eröffnet sich der weite Blick über „den ramponierten Osten der Stadt“. Im Übergang dazu bildet der River Lea eine Grenzzone, die mit ihrer turbulenten Mischung aus Marschland, Industriebrache und Aufbaugebiet die Stadt vor dem „endlosen Vorortsgürtel“ schützt. Die Erzählerin hat viele Jahre in London gelebt. Um Abschied von der Stadt zu nehmen, hat sie für ein letztes Jahr eine neue Wohnung bezogen, damit sie ihre Erinnerungen wie ihre Packkartons solide verschnüren kann. Die Gänge hinunter zum River Lea und von da südwärts in Richtung Themse gehören zu den regelmäßigen Exerzitien, denen sie sich unterzieht, um gedanklich und fotografisch festzuhalten, was einmal war. Sie macht sich vertraut mit dem Leben rund um diesen minder wichtigen Stadtfluss, der mehr und mehr zum Repräsentanten aller Flüsse wird.

Die Erzählerin wird an Kindheitsbilder vom Rhein erinnert, wo sie aufgewachsen ist. Ihr fallen Reisen ein, die sie einst unternommen hat und die immer mit Flüssen verbunden waren: nach Polen über die Oder, nach Mostar der Neretva entlang, an die sprunghafte Tisza in Südungarn, durch Kalkutta auf einem klapprigen Fährschiff. Flüsse ziehen mit ihrem Lauf immer Grenzen, sei es durch belebte Städte oder über leeres Land – und sie streben immer zum Meer, mal zügig, mal gewunden, wie der River Lea, der kurz vor der Mündung in die Themse letzte Verrenkungen macht, bevor er sich schließlich doch in die Themse ergießt und sich von ihr ins Meer tragen lässt.

Die Reminiszenzen an frühere Reisen erhalten den Charakter von kleinen Reportagen. Sie sind eingebettet in die zuweilen zielgerichteten, oft spontanen Londoner Spaziergänge durch Dämmerzonen abseits der glänzenden Fassaden. Die Erzählerin trifft hier auf Menschen, deren abgeschliffene Dialekte sie kaum verstehen kann, und deren Leben in Ärmlichkeit und Alltäglichkeit wie festgefroren scheint.

London ist ein unüberschaubares Meer an Geschichten, eine Metropole im permanenten Umbruch. Esther Kinsky kennt die Stadt, sie weiß wovon ihre Erzählerin berichtet. Sie ist am Rhein bei Bonn geboren, hat viele Reisen nach Polen, Ungarn et cetera unternommen und von 1990 bis 2004 in London gelebt. Sie kennt demnach auch den Abschied von dieser Stadt, dem ihre Erzählerin ein ganzes Jahr einräumt. Präzise, in schönen Bildern und mit Gespür für abschüssige Details und die Nebenschauplätze hält diese fest, was sie sieht und erkennt oder woran sie sich dabei erinnert. Bei einem abendlichen Gewitter gerät sie unvermittelt in den armseligen Wohnwagen einer Zigeunerin, die ihr zuckrigen Tee vorsetzt und ihr Schicksal aus der Hand liest. Oder sie beschreibt kurz und bündig die sagenhafte Londoner Geduld am Beispiel eines Mannes, dessen Auto in seinem Vorgarten vom Sturm umgekippt wurde. Er richtet den verbeulten Wagen auf, „hob die Hand zu einem kurzen Gruß und warf mir einen Satz zu, den ich nicht verstand. Mit Mühe öffnete er die Tür, setzte sich hinters Steuer, startete den stotternden Motor und klatschte froh in die Hände“.

Im Untertitel nennt die Autorin ihr Buch einen Roman – als Warnung vor autobiografischen Kurzschlüssen. Das Buch lässt eine Welt in Schwarz-Weiß auferstehen, so wie es alte Fotografien tun. Die Hauptrolle kommt dabei der Stadt zu. Die Erzählerin fotografiert auf ihren Gängen mit einer Polaroid-Kamera oder sie sucht nach Fotografien, in denen alte Eindrücke festgehalten wurden. Bilder, Begegnungen und Geschichten formen sich zu einem trägen Fluss der Gedanken, denen eine ruhige, tiefe Melancholie des Abschieds eingeschrieben ist.

Je näher sie der Themsemündung kommt, umso klarer kristallisiert sich die Idee ihres Romans heraus: Er zeigt eine vergängliche wie vergangene städtische Welt. Im „Zwielicht von Wohlstandshoffnungen“, heißt es einmal, „war Hackney Wick ein Abseits, ein liegen gebliebenes, von Zeiten und Läuften hin- und hergeschubstes, zerfleddertes Gelände mit seinen eigenen Regeln der Leere und Verwilderung zwischen Schrotthöfen, Autowerkstätten, Lagerräumen, Müllplätzen, mit seinem eigenen Alphabet der Zeichen, bröckelnd, rostend, verzerrt und verkohlt“. Doch genau dieses Alphabet ist immer seltener lesbar im Grenzland des River Lea. „Wo sich früher die Stadt zu Ende erklärte“, herrscht heute Bauboom. Esther Kinsky bezieht sich auf die Jahre vor 2004, seither ist auf dem alten Marschgebiet von Stratford ein gigantisches Bauprogramm losgetreten und die alte Topografie förmlich umgekrempelt worden. Dem Olympiapark musste auch die legendäre Hunderennbahn, das Hackney Wick Stadium, weichen. „Mind the gap“ wird in jeder U-Bahn-Station bei jeder Türschließung ausgerufen – doch „mind the gap“ könnte auch ein Warnruf sein für das Auseinanderdriften der Metropole. Sie wirkt bedroht durch politische Willfährigkeit gegenüber Millionären und Milliardären. Wo aber wohnen die einfachen Leute?

Davon erzählt dieses Buch in Form von gebündelten Reminiszenzen. So erregend dynamisch sich das heutige Ostlondon präsentiert, so sehr wird auch spürbar, dass stetig etwas verloren geht. Die viktorianische Zündholzfabrik in Bow – eine Fabrik wie ein Schloss – ist längst zum feudalen Reservat für gut Betuchte umgebaut. Diese Atmosphäre von Verlust und Abschied kennzeichnet diese akkurat geschriebene, atmosphärisch stimmige und melancholische Liebeserklärung an London. Die Erzählerin zieht am Ende aus, doch nicht allein. Auch der kroatische Gebrauchtwarenhändler um die Ecke hat zugesperrt. Allerhand geht verloren – und dennoch: vieles bleibt (noch) bestehen in dieser vitalen Stadt.

Hinweis:

Peter Marshalls Fotoserie mit Bildern aus dem Lea Valley ab 1980 findet sich online unter http://river-lea.co.uk/

Titelbild

Esther Kinsky: Am Fluss. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
392 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783957570567

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