Entführt im Irak

Sherko Fatahs Roman „Der letzte Ort“ ist eine verstörend poetische Dokumentation des Grauens

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schweiß auf der Stirn, hustend vor Staub und mit tränenden Augen versucht Albert zwischen den Holzlatten des Stalles, in dem er gefangen ist, etwas zu erkennen. Albert und sein Übersetzer Osama wurden im Irak entführt. Der irakisch-deutsche Autor Sherko Fatah lässt den Leser der ersten Zeilen seines neuen Romans „Der letzte Ort“ erahnen, was es bedeutet, mit Sand im Mund und einem Sack über dem Kopf in ein Auto gezerrt zu werden.

Albert und Osama werden geschlagen, in Autos auf unbefestigten Sandpisten von einem Versteck zum nächsten gebracht. Ihre Entführer sind Schiiten, die einen Aufstand gegen die amerikanischen Besatzer begonnen haben: „[…] das sind keine Wegelagerer oder Gangster, wie ihr sagt. Die hier vor der Tür glauben an das, was sie tun“, bekräftigt Osama. Zwischenhändler reichen die Gefangenen weiter. Es geht um Geld und Glauben. Halbe Kinder gehören zu den Wächtern – Jungen, für die Gewehre das Beste sind, was sie je hatten. Die Macht der Waffen erfüllt sie mit Stolz und lässt sie grinsend die Gefangenen misshandeln.

Mit jedem Tag verändert sich die Situation der Gefangenen. Albert wird krank, er wird von Fieber geschüttelt. Hunger umfasst seinen Magen wie eine zupackende Kralle, seine Hände zittern. Die eigene Schwäche ängstigt Albert und Osama. Unaufhaltsam schwindet ihr Mut, die Gleichgültigkeit nimmt überhand. Fatah schildert die ausweglose Situation der Entführten und zieht die Schlinge gnadenlos enger. Der Leser kann sich dem Leiden der Männer in der bewegungslosen Hitze nicht entziehen. Immer tiefer gleitet der Leser mit ihnen in einen Abgrund aus Hunger, Durst, Fieberträumen und Gewalt. Die Angst ist greifbar.

Zugleich beschreibt der Autor die irakische Landschaft aus hellbraunen Dünen, windgeglättetem Gestein, verdorrtem Buschwerk und der flirrenden Hitze mit geradezu verstörender Liebe. Wenn sich über grauweißen Mauern ein unendlich blauer Himmel öffnet, romantisiert er die Schauplätze der Odyssee. Kunstvoll beschreibt Fatah, wie der Wind Sandschleier aufwirbelt und trockene Sträucher knistern lässt. Diese Poesie verstärkt die Wucht, mit der die Brutalität der Entführung zurückschlägt. Das Ächzen der Männer und ihr lautloses Jammern bohren sich noch tiefer in die Eingeweide des Lesers.

Dabei wollte Albert eigentlich nur helfen. Er kam aus Deutschland und wollte dazu beitragen, „das Kulturerbe des Landes zu bewahren“; mitten im Krisengebiet wollte er über Museumsplünderungen berichten. Aber Mitleid ist nicht gewünscht. Stattdessen hinterfragt Fatahs Roman Blickrichtungen. Theoretische Diskussionen in deutschen Hörsälen über den Dialog der Kulturen erscheinen in neuem Licht, wenn die Macht „von religiösen Fanatikern, selbsternannten Propheten, Tribunen und Heerführern“ ausgeübt wird. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, um Objektivität bemüht. Ein Wechsel zwischen den Sichtweisen Alberts und Osamas. Und Osama betont, dass die Entführer Albert seine aus ihrer Sicht irrationale Selbstlosigkeit und Naivität nicht abnehmen: „Sie verstehen es nicht. Ein Mann aus dem Westen kommt hierher, es herrscht Krieg, er fährt durch die Gegend und kümmert sich um alte Steine. Was soll das?“ Hernach führen Osama und Albert lange Gespräche, in denen gegenseitiges Misstrauen („Du gehörst zu ihnen!“) aufkommt. Doch sie kommen sich trotz aller Widrigkeiten näher. Sie reden über den Hass zwischen den Kulturen, ihre Familien, ihre Träume und scheinbar Belangloses. Albert berichtet von seiner Jugend, seinem Zuhause in Ostberlin, von der Datsche der Familie mit einem leicht von der Wand abstehenden Ölgemälde: Hirsch am Waldrand. Absurd erscheinen dem hungernden Albert die Erinnerungen an seine Schwester Mila und ihre „beharrliche Weigerung, auch nur annähernd genug zu essen“. Miteinander zu sprechen ist das Einzige, das Osama und Albert während den Stunden in der Gefangenschaft, der Willkür ihrer Entführer ausgesetzt, ihren Verstand und die Hoffnung bewahren lässt.

Fatahs Roman bewegt sich damit erschreckend nah an der Realität. Der enthauptete US-Journalist James Foley berichtete in einem postum veröffentlichten Brief, welch große Hilfe ihm die endlos langen Gespräche waren, die er mit den anderen Gefangenen in seiner Zelle geführt hat. Indem sie sich Geschichten erzählten, an ihre Heimat erinnerten und lachten, hätten sie die Spannung gebrochen. Foley berichtete von starken und schwachen Tagen und der Sehnsucht nach der eigenen Freiheit. Die Welt hielt einen Moment den Atem an, als Ende August 2014 die Worte von James Foley in den Zeitungen gedruckt wurden. Dass Terrorkalifate durch den Norden Iraks ziehen, Menschen entführen und enthaupten, erscheint noch immer viel zu weit von unserem Bewusstsein entfernt. Europa wurde vom Siegeszug der IS-Milizen überrascht. Es ist unklar, wie man dem organisierten Verbrechen begegnen soll. Laut Recherchen der „New York Times“ befanden sich im August 2014 etwa 20 Europäer und Amerikaner in Haft der Terrororganisation Islamischer Staat.

Ob sie wieder in Freiheit gelangen werden, ist offen. Das Ende von Fatahs Roman ist ebenso offen. Am scheinbar „letzten Ort, den man in diesem Land erreichen kann“, hängen die Sunniten, an die die Entführten schließlich übergeben wurden, Osama kopfüber an einem Metallhaken an der Decke auf. Ruhig und mit erstaunlicher Offenheit erklärt ihm sein Peiniger die Lage. Es seien noch andere Gefangene in der Gegend versteckt: „Die Verhandlungen laufen alle gleichzeitig und gehen durcheinander. Für die anderen wird mehr geboten, daher seid ihr wohl als Letzte dran. Es dauert einfach zu lange.“ Er überlässt ihn einem Jungen mit einem Feuerzeug. Fatahs Roman ist ein wichtiger Beitrag zur Bewusstseinsbildung in Deutschland. Er hinterlässt fassungslose und nachdenkliche Leser. „Der letzte Ort“ verdient Aufmerksamkeit und er verdient es, gelesen zu werden.

Titelbild

Sherko Fatah: Der letzte Ort. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
288 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874173

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