Masochismus nach Deleuze

Ein ästhetischer Bestimmungsversuch von Jaša Drnovšek

Von Maria DschaakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Dschaak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1967 veröffentlicht Gilles Deleuze den wirkungsmächtigen Aufsatz „Présentation de Sacher Masoch“. Darin verwirft er nicht nur die begriffliche Einheit des Sadomasochismus, sondern auch die Freud’sche Bestimmung des Masochismus als einen nach innen gewendeten Sadismus. Mit der Differenzierung eines juridischen und ästhetischen Masochismus versucht er, sich von Bestimmungsversuchen des psychologischen Diskurses zu distanzieren. Genau an diesem Punkt setzt die Arbeit des slowenischen Komparatisten Jaša Drnovšek an: Drnovšek interessiert der ästhetische Aspekt des Masochismus – verstanden als lebensweltliche Praxis. Der Autor verknüpft in seinem Versuch, Masochismus als lebensweltliche Praxis und Ästhetik zu definieren, den psychoanalytischen und ästhetischen Diskurs miteinander.

Nach Deleuze bedeutet für den Autor vor Deleuze und damit zurück zur alten, klassischen Schule der Psychoanalyse: Im ersten von insgesamt drei Kapiteln widmet er sich den frühen psychoanalytischen Theoretikern. Den Auftakt macht der deutsch-österreichische Psychiater Richard von Krafft-Ebing. Dieser beschäftigt sich in dem 1886 erschienen Werk „Psychopathia sexualis“ mit den abnorm erscheinenden Phänomenen menschlicher Sexualität. Die Ausarbeitung des Begriffs des Masochismus erfolgt hierbei schrittweise und über mehrere Veröffentlichungen: In „Psychopathia sexualis“ lediglich als Fallbeispiele erwähnt, bietet Krafft-Ebing 1890 in „Neue Forschungen auf dem Gebiet der Psychopathia sexualis“ erstmals ein Erklärungs- und Verstehensmuster des Masochismus: Der masochistische Reiz ist weniger ein körperlicher als ein seelischer, der in der Unterwerfung und Demütigung eines Mannes durch eine Frau besteht. Er bezieht sich in der Namensgebung nicht nur auf den österreichischen Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch und grenzt diesen in seiner Bestimmung als Gegenstück vom Sadismus ab, sondern definiert das in der weiteren Forschungsgeschichte kontroverse Thema des Verhältnisses von Schmerz und Lust als Ausgleichmechanismus.

Im Anschluss hat der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud einige wichtige Differenzierungs- und Definitionsvorschläge des Masochismus unternommen. Er versteht Masochismus weiterhin als Gegenbegriff zum Sadismus und bietet mit dem dreistufigen Entwicklungsmodell ein zusammenhängendes Erklärungsmodell. In dem Aufsatz „Das ökonomische Problem des Masochismus“ aus dem Jahr 1924 unterscheidet er drei Formen des Masochismus – den primären, femininen und moralischen Masochismus.

Obwohl es für die eigentliche Fragestellung irrelevant ist, arbeitet der Autor auch die Diskussion des Masochismus im Diskurs der Geschlechterforschung auf. Als Beispiele wählt er Freuds Schülerin Helene Deutsch und Karen Horney.

Als letzten Pfeiler im ersten Teil führt der Autor den österreichisch-amerikanischen Psychoanalytiker Theodor Reik auf. Seine theoretischen Erörterungen dienen ihm als Rahmen für die Erarbeitung einer masochistischen Ästhetik. Wie bereits die Theoretiker zuvor spricht auch Reik von Sadismus und Masochismus als Paarung, unterscheidet aber eine sexuelle Form des Masochismus von einer moralischen Form, die eine Lebenseinstellung meint. Die genuine Leistung Reiks, die sich der Autor in der Folge zu Nutzen machen wird, ist die Bestimmung dreier Merkmale der masochistischen Ästhetik – Fantasie, Suspense und demonstrativer Charakter.

In den nächsten zwei Kapiteln wird der Autor diese Kriterien auf Immanuel Kants Ästhetik des Erhabenen und Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen anwenden, um die These zu erhärten, dass das Masochistische, so wie es Reik versteht, einen impliziten ästhetischen Wert aufweist.

Den aus insgesamt fünf Unterfragen bestehenden zweiten Teil eröffnet der Autor mit der Bestimmung des Erhabenen bei Kant. Es wird das Mathematisch-Erhabene von dem Dynamisch-Erhabenen unterschieden. Ersteres meint das „quantum“, das sich als solches immer auf die Größe eines Dinges überhaupt bezieht. Das Dynamisch-Erhabene hingegen bezieht sich auf ein „Begehrungsvermögen“, eine innere Erschütterung.

In der Folge geht der Autor der Frage nach, inwiefern der Begriff des Erhabenen in den Diskurs der Kunst integrierbar ist. Zwei Bestimmungen stechen dabei heraus: zum einen die Bedeutung der Form und zum anderen seine Wirkung. Da das Erhabene sich als emotionale Regung, Rührung in uns zeigt, ist es auf keine „sinnliche Form“ bezogen, sondern entweder formlos oder aus einer bestimmten Form. Die Wirkung des Erhabenen ist jeweils eine der Rührung. Die dritte Frage betrifft das Verhältnis von Lust und Unlust. Unumstritten ist, dass das Erhabene ein „komplexes Gefühl“ ist, das sich aus Lust und Unlust zusammensetzt. Diese Kombination führt zu einer permanenten Hin- und Herbewegung von Anziehung und Abstoßung.

Bei der prinzipiellen Frage nach Diachronie oder Synchronie, von Lust und Unlust, ordnet sich der Autor der Position zu, die Lust und Unlust als „kausal bedingte Gefühlsstruktur“ versteht. Er versteht Angstlust als Hin- und Herbewegung in Richtung einer vertikalen Ebene, sodass Lust und Unlust augenscheinlich synchron verlaufen. Das erhabene Gefühl qualifiziert er als nicht-teleologische Schwellenerfahrung, sodass das Bedingungsverhältnis zwischen Lust und Unlust nie ein diachrones sein kann. In der Folge – vierte Frage – widmet sich der Autor der Relation von Erhabenem und Masochismus.

Marianne Noble stellt in „The Revenge of Cato’s Daughter“ die These auf, dass das Erhabenem und der Masochismus in einem Verwandschaftsverhältnis zueinander stehen. Diese Behauptung unterfüttert der Autor mit zwei der drei Kriterien von Reik. Da das Erhabene ein innerliches Gefühl ist, verzichtet er auf das Reik’sche Kriterium der Inszenierung und Dramatisierung und konzentriert sich auf die Merkmale Fantasie und Suspense. Die Fantasie erweist sich für das Mathematisch-Erhabene als „unentbehrlich“. Sie wird notwendiger, je weniger ein Gegenstand durch die Anschauung erfassbar wird. Die Bedeutung der Einbildungskraft für das Dynamisch-Erhabene erschließt sich dem Autor über die Gegenfrage: Ist das Gefühl der Angst im Dynamisch-Erhabenen ohne Fantasie möglich? Die Verneinung dieser Frage führt zur These, dass „die Einbildungskraft auch hier die Bedingung der Möglichkeit des erhabenen Gefühls“ ist. Für die Frage nach dem Verhältnis von Suspense und dem Mathematisch-Erhabenen stellt der Autor eine „Zusammenhangslosigkeit“ fest. Und auch für das Dynamisch-Erhabene ergeben sich drei Differenzen im Bezug auf den Aspekt des Suspense: Erstens ist die Angst des Dynamisch-Erhabenen objektbezogen, während die Angst des Suspense „nie auf ein reales Objekt hinweist“. Zweitens ist die Angst im Suspense unbewusst, im Dynamisch-Erhabenen bewusst und drittens ist die Angst des Suspense echt und die des Dynamisch-Erhabenen unecht.

Nachdem der Autor in der fünften Unterfrage den moralischen Begriff der Achtung mit dem Masochismus und dem Dynamisch-Erhabenen in Verbindung bringt, eröffnet er das dritte Kapitel mit einem Performance-Beispiel des Künstlers Sterlac. Dem in Limasoll, Zypern geborenen Medien- und Performance-Künstler geht es in seinem künstlerischen Werk um die Grenzen des menschlichen Körpers und in den letzten Jahren zunehmend um seine Beziehung zur Technologie. Bereits auf dem Buchdeckel wird auf Sterlac verwiesen: Im Umschlag wird die Seaside Suspension aus dem Jahr 1981 in Japan abgebildet. Der Autor selbst bezieht sich in seinen Ausführungen und seiner Argumentation auf die Performance Street Suspension vom 21. Juli 1984 in New York. Dabei wurden mehrere Angelhacken in Sterlacs Rücken befestigt, so dass er an den an einem Flaschenzug aufgehängten Hacken mit dem Gesicht zur Erde zwischen zwei Gebäuden frei schweben konnte. Weniger entscheidend in diesem Zusammenhang als die Performance an sich, ist die Tatsache, dass sich der Künstler ablehnend gegenüber der Behauptung, seine Performances seien masochistisch, geäußert hat. Der Autor geht dieser Behauptung nach, indem er die drei Kriterien von Reik auf die Performance-Kunst anwendet. Den Aspekt der Fantasie meint er bereits aus der simplen Zuordnung der Performance in den Diskurs der Kunst erkennen zu können.

An dieser Stelle tut sich ein Widerspruch in der Argumentation des Autors auf: Hat er sich zu Beginn noch von dem Diskurs der Kunst distanziert, nutzt er diesen nun für seine Argumentation. Bezüglich des Suspense-Momentes stellt der Autor Folgendes fest: Unlust wird im Suspense durch Angst erzeugt; Sterlac hingegen spricht von Schmerz und Stress als Ursache von Unlust. In jedem Fall streben beide aber nach Endlust. Der demonstrative Charakter einer Performance liegt im Namen selbst und auf der Hand: Performances werden immer vor Publikum abgehalten. Mit genau diesem Publikum beschäftigt sich der Autor im nächsten Unterkapitel. Die Frage ist, ob es einen Kopplungsmoment zwischen Künstler- und Zuschauererleben gibt. Dafür greift der Autor auf die Entdeckung der Spiegelneuronen zurück, die ein momentanes synchrones Erleben erklären. Er schließt daraus, dass Performances entgegen Sterlacs Aussage durchaus im Sinne Reiks als masochistisch bezeichnet werden können. Nachdem der Autor im folgenden Kapitel die Grundbegriffe der Ästhetik des Performativen zusammenfasst, die in der Veröffentlichung „Ästhetik des Performativen“ von Erika Fischer-Lichte ausführlich erläutert werden, geht er der Frage nach, inwiefern Reiks Theorie des Masochismus mit der performativen Ästhetik kompatibel ist. Nachdem der Autor diese in den Begriffen Liminalität und Inszenierung wiederentdeckt, qualifiziert er auch diese als masochistisch.

Im finalen Schlussteil sieht er nicht nur seine Ausgansthese der ästhetischen Qualität des Masochismus als bewiesen, er bezeichnet den Masochismus auch als „zeitgenössisch und aktuell“. Drnovšek präsentiert einen interessanten Ansatz zur Erschließung des Phänomens des Masochismus außerhalb des filmwissenschaftlichen Diskurses, in dem er in den letzten Jahren hauptsächlich fruchtbar gemacht worden ist. Prinzipiell kann dem Autor zugestimmt werden, wenn er eine einschränkende Fokussierung auf den Aufsatz von Deleuze feststellt. Zu seinem Bedauern wurde und wird die Ästhetik des Masochismus immer wieder an den Diskurs der Kunst gebunden, sodass Studien zum Masochismus in Literatur und Film dominieren. Doch leider lässt der Autor hierbei außer Acht, dass die Genese des Begriffs des Masochismus ein exemplarisches Beispiel für die Wirkung und Bedeutung von Literatur ist. Die Veröffentlichung weist auch einige strukturelle Schwachpunkte auf: Die Bestimmungsversuche des Begriffs der lebensweltlichen Praxis beschränken sich auf einen Verweis auf Rüdiger Bubners These von der Ästhetisierung der Lebenswelt. Diesen wesentlichen Aspekt seiner Argumentation setzt der Autor einfach als gewusst und bekannt voraus – eine Erklärung sucht der Leser vergebens. Die feministische Kritik des psychoanalytischen Ansatzes wird hingegen unnötigerweise zu weit ausgeführt. Diese ist zwar für die Begriffsgeschichte des Masochismus essenziell, aber für die eigentliche Fragestellung des Autors irrelevant.

Mit dem im letzten Kapitel des Buches aufgemachten Verweis auf die Performance-Kunst eröffnet der Autor eine neue und interessante Perspektive. Auch wenn diese ohne Weiteres auf das Phänomen der Body Modification oder auch Modern Primitives hätte ausgeweitet werden können, zieht der Autor damit in jedem Fall – unabhängig von der Frage nach der ästhetischen Qualität des Masochismus – wesentliche Bezüge zu aktuellen Erscheinungen.

Titelbild

Jasa Drnovsek: Masochismus zwischen Erhabenem und Performativem.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
194 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556656

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