Freiwillig in die Hölle

Der Amerikaner Jack London begab sich undercover in die Londoner Unterwelt – und schrieb die Mutter aller Sozialreportagen

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geschah im Herbst 1888. Eine Serie grausamer Morde an Prostituierten im Londoner East End verbreitete Angst und Schrecken. Die Brutalität, mit der der Serientäter, der als „Jack the Ripper“ bekannt wurde, seine Opfer verstümmelte und ihnen Organe entnahm, bestimmte über Jahrzehnte den Ruf des Viertels als Elendsquartier mit hohem Gewaltpotenzial.

Um das Leben im East End mit eigenen Augen zu sehen, tauchte Jack London 15 Jahre später in Londons Unterwelt ein. Sieben Wochen lang zog sich der amerikanische Schriftsteller, der zuvor schon unter anderem als Seemann, Fabrikarbeiter und Goldsucher sein Geld verdient hatte, zerrissene Klamotten an, gab sich als arbeitsloser US-Matrose aus und mischte sich so unter die Bevölkerung. Ein völlig neuer Weg der Recherche, die Geburtsstunde der investigativen Sozialreportage, die später viele Nachahmer finden sollte. Das Ergebnis seines Undercover-Einsatzes trägt den Titel „Menschen der Tiefe“ (Original: People of the Abyss) und erschien erstmals 1903. Nun liegt das Werk in neuer Auflage und Übersetzung vor.

London beschreibt darin anschaulich dunkle Gassen voller Dreck und stinkender Gülle, in denen der soziale Unterbau des British Empire haust. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten rund 900.000 Menschen im East End, fast ein Zehntel von ihnen in Whitechapel. Die hygienischen Verhältnisse waren so katastrophal, dass mehr als die Hälfte der Kinder dort vor Erreichen des fünften Lebensjahrs starben. Epizentrum des Elends war die Dorset Street, die heute nicht mehr existiert. Hier trieben sich Hehler, Zuhälter, Bettler, Trinker und Huren herum; es wurde gedealt, geraubt und gemordet. Die Zustände waren derart bedrohlich, dass selbst der als nicht gerade zart besaitet geltende Jack London sich für teures Geld in ein Zimmer außerhalb des Viertels einmietete, in das er sich nachts zurückzog.

Die Wirkung seines Tatsachenberichts hat bis heute kaum an Wucht verloren. Wenn London die Figuren beschreibt, denen er begegnet – etwa den greisen Seemann vor dem Asyl für Obdachlose, den glücklosen Zimmermann oder den müden Fahnenträger – dann sitzt man mit ihnen an der Bar, friert mit ihnen, leidet mit ihnen. Fesselnd ist auch, wie Londons Wahrnehmung des Elends sich nach und nach wandelt, wie er darin zunehmend tiefgehende Herzlichkeit, Zusammenhalt und Weisheit entdeckt. Er beschreibt, wie ein einziger Fehler, eine Pechsträhne oder ein Betrug den sozialen Fall nach sich ziehen kann – und den Weg zurück auf die Sonnenseite für immer unmöglich macht. Die Kinder im East End besäßen noch „alle Eigenschaften, die zu edler Menschlichkeit und Weiblichkeit entwickelt werden können“. Es sei das Ghetto, die Trennung zwischen Oben und Unten, zwischen Reich und Arm, die aus dem hoffnungsvollem Nachwuchs kriminellen Abschaum macht. Und so ist Jack Londons Bericht auch eine Gesellschaftskritik, ein empathischer Brückenschlag zwischen den Welten.

Titelbild

Jack London: Menschen der Tiefe. Reportage aus dem Londoner East End um 1900.
Primus Verlag, Darmstadt 2013.
270 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783826230462

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