Anekdoten aus der Diktatur

In „Der Sprengprofessor“ wirft Victor Zaslavsky in lesenswerten Kurzgeschichten einen beklemmenden Blick auf das Leben in der Sowjetunion

Von Martin BeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Becker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An seinem 2007 erschienen Sachbuch Klassensäuberung – Das Massaker von Katyn, für das Victor Zaslavsky 2008 den „Hannah-Arendt-Preis“ erhielt, würdigte die Jury insbesondere „den Mut Zaslavkys, gegen das Schweigen anzugehen“.

In Der Sprengprofessor gelingt dies Zaslavsky erneut, aber auf ganz andere Weise als in seiner historischen Analyse. Das Buch trägt den Untertitel Lebensgeschichten und verweist auf die autobiografischen Bezüge der kleinen Anekdoten, die sich zeitlich vom Zweiten Weltkrieg bis Mitte der 1970er-Jahre erstrecken. Die Geschichten erzählen vom Leben in der sowjetischen Diktatur und wie Menschen damit umgehen.

Das Buch beginnt mit einer Erzählung der Evakuierung Leningrads und dem Leben des Erzählers als Kind in einem kleinen Dorf. Bezeichnenderweise trägt die Geschichte den Titel Hoffnung nach dem Namen der Figur Nadeschda, die den Erzähler, seine Tante und deren Sohn aufnimmt: 

„Meine Eltern waren Bauern, das Leben war hart. Sie hofften, dass ich es ein wenig besser haben würde als sie. Deshalb gaben sie mir diesen Namen. Und genauso geschah es. Ich vergesse die unangenehmen Dinge und behalte nur die schönen in Erinnerung.“

Dies gilt natürlich auch für die Kindheit des Erzählers, der, gemessen an der Katastrophe des Krieges, ein nahezu glückliche Kindheit erlebt. Auch die anderen Anekdoten schwanken zwischen Tragik und nahezu absurder Komik. Dieser Schwebezustand entsteht vor allem durch Zaslavskys lakonischen Stil, der die Geschehnisse nüchtern beschreibt und nur selten bewertet. So beispielsweise in der Anekdote Der Aufstand der Alten Damen, indem sich zwei betagte Freundinnen mit dem Bezirkskomitee der Partei anlegen, weil das Porträt eines Politikers, das auf der Fassade ihres Hauses angebracht wird, alle Fenster ihrer Wohnung überdeckt – doch „was konnte den Gemeinsinn der Bevölkerung mehr beflügeln als die zufriedenen und hoffnungsfrohen Gesichter der Führungskräfte des Partei- und Staatsapparats von heute?“ Die beiden Damen geben erst auf, als die Partei droht, der Nichte die Erlaubnis zum Studium zu entziehen. Denn wie könne sie eine gute Pädagogin sein, wenn sie nicht einmal ihren Tanten davon überzeugen kann, wie eine gute Sowjetbürgerin zu leben hat? Die Anekdote endet damit, dass die beiden Damen das Porträt betrachten und sich über das Aussehen des Abgebildeten lustig machen. Die Unterdrückung der Individualität in einem kollektivistischen Regime ist ein wiederkehrendes Motiv in den Erzählungen. Sei es die Diskriminierung des Onkels aufgrund seiner jüdischen Abstammung oder die Absetzung des Sprengprofessors, der sich für den Erhalt einer historischen Kirche einsetzt. Die Anekdote über eine Biologielehrerin, die sich vor Schreck nach einem Schülerstreich bekreuzigt und deshalb in Ungnade fällt, wirkt ebenfalls zunächst komisch. Doch dann erfährt der Erzähler, dass sie eine behinderte Tochter versorgen muss.

Die Geschichten zeichnen somit bei aller Lustigkeit, die ja oft kennzeichnend für Anekdoten ist, ein düsteres Bild vom Leben in der Sowjetunion, das durch den distanzierten Stil noch verstärkt wird. Die letzte Anekdote erhält am Ende noch eine poetologische Dimension, wenn der Erzähler resümiert, dass die beengten Verhältnisse eben zu jenen Geschehnissen geführt haben, die zu Anekdoten geworden sind. Die Narration wird zum Medium der Erinnerung und zeigt noch einmal die große Stärke des Bandes (und der Literatur allgemein) auf: Die Erzählungen bieten einen plastischen Eindruck in das Leben, intensiver als ein Sachbuch, weil sie ein Erleben vermitteln.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Victor Zaslavsky: Der Sprengprofessor. Lebensgeschichten.
Übersetzt aus dem Italienischen beziehungsweise Russischen von Rita Seuß und anderen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
140 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783803112927

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