Jenseits von Gut und Böse

Blaise Cendrars „Moravagine“ erliegt der Faszination seines Protagonisten

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als „Monsterroman“ bezeichnete Blaise Cendrars sein 1926 in Frankreich publiziertes Werk „Moravagine“ im Untertitel.  Man könnte verleitet sein, diese Benennung auf den Roman selbst zu beziehen: ein Ungetüm an ausufernden Reflexionen, weitgehend psychologiefreien Charakteren, keiner narrativen Logik gehorchenden Handlungssprüngen. In erster Linie aber ist es der titelgebende Protagonist, der hier als Monster eingeführt wird – ein ungarischer Adliger eines untergegangenen Königshauses, misogyner Frauenmörder (sein Name gelesen als „mort à vagin“), Psychiatrieinsasse und Verkrüppelter.

Moravagine wird von einem jungen Arzt, dem Erzähler der Geschichte mit dem sprechenden Namen Raymond la Science, in einer geschlossenen Anstalt entdeckt und befreit. Rasch erliegt letzterer der Faszination, die von Moravagine ausgeht. Zusammen führen beide bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges ein ruheloses Leben auf der Flucht: Sie nehmen in Russland ab 1905 an der ersten Revolution teil und planen einen Anschlag auf die Zarenfamilie, der im Fiasko endet; sie fliehen nach Amerika und gelangen schließlich zu einem Indianerstamm im Amazonas. Nach der Rückkehr nach Europa werden alle weiteren hochtrabenden Pläne durch den Kriegsausbruch vernichtet, beide werden eingezogen und verlieren sich aus den Augen; wahnsinnig geworden, stirbt Moravagine 1917. Seine zahlreichen Manuskripte und Zukunftsvisionen über einen 99-jährigen Krieg und eine Marsexpedition gehen an La Science, über den sie wiederum zum vermeintlichen Herausgeber Cendrars gelangen, der dem Buch ein entsprechendes Vor- und Nachwort mit auf den Weg gibt.

Bei der Neuedition in der Reihe „Die andere Bibliothek“ handelt es sich um eine gewohnt schöne und aufwändige Ausgabe, die mit einem umfangreichen Apparat aufwartet: Paratexte von Cendrars, Textkommentare und ein anregendes Nachwort von Stefan Zweifel, der auch die aus den 20er Jahren stammende deutsche Übersetzung überarbeitet hat. Dennoch bleibt die Frage, was diese Neuausgabe jenseits ihres bibliophilen und literarhistorischen Wertes legitimiert. Mit anderen Worten: Lässt sich „Moravagine“ heute noch mit Gewinn lesen? Zweifellos ist der Roman gealtert. Er fängt die antibürgerliche Orientierung, die latente Geistesfeindlichkeit und die Krisenstimmung der Zwischenkriegszeit ein. „Hast du denn immer noch nicht verstanden, daß die Welt des Geistes zum Teufel ist und daß die Philosophie noch schlimmer ist als die Bertillonage? Ihr macht mich lachen mit euren metaphysischen Ängsten, ihr seid im Würgegriff der Furcht, der Angst vor dem Leben, der Angst vor Männern der Tat, der Angst vor der Tat selbst, vor der Unordnung. Dabei ist alles, mein Lieber, Unordnung.“ So predigt Moravagine seinem treuen Begleiter. Es gebe keine Wahrheit: „Das Leben ist Verbrechen, Diebstahl, Eifersucht, Hunger, Lüge, Ficksaft, Dummheit, Krankheiten, Vulkaneruptionen, Erdbeben, Leichenhaufen.“ Wenige Tage später bricht der Erste Weltkrieg aus und La Science kann Moravagine nur noch beipflichten. Alle Philosophie, alle heroischen Gesten des Menschen mündeten letztlich, so La Sciences Fazit, im Krieg: „Nein, es geht in keiner Weise um dein Vaterland und deine Heimat, du Deutscher oder Franzose, du Weißer oder Schwarzer, du Papua oder Borneoaffe. Es geht um dein Leben. Wenn du leben willst, töte.“

Vielleicht lässt sich der hier zum Ausdruck gebrachte Nihilismus auch als kritische zeitgeschichtliche Stellungnahme eines Autors lesen, der – selbst gebürtiger Schweizer – als Freiwilliger für Frankreich in den Krieg gezogen war. Auf diese kritische Linie läuft der Text, der sich auch an die Tradition des Abenteuerromans anlehnt, jedoch nicht hinaus. Vielmehr scheint der Roman sich dem Faszinosum des menschlichen „Monsters“ willig zu ergeben. Gerade hier fällt es der Leserin schwer, ihm zu folgen. Moravagine verkörpert nicht das Böse, er gerinnt vielmehr zum avantgardistischen Topos einer Kreatur jenseits der von Gesetz, Konvention und Moral gezogenen Grenzen – seine Manuskripte firmiert er mit „Moravagine, Idiot“. Ob Cendrars in dessen anarchischer Energie seine Zeit gespiegelt sah? Zumindest fungierte Moravagine als Double des Autors – ein Double, das ihn über Jahrzehnte beschäftigte und ihm das Bild eines anderen Selbst zeigte. Das Buch endet mit einem Epitaph: „Hier ruht ein Fremder“, so lautet die Inschrift auf Moravagines Grabstein. Als Fremden werden ihn auch viele seiner Leser empfinden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Blaise Cendrars: Moravagine. Monsterroman.
Übersetzt aus dem Französischen von L. Radermacher.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2014.
432 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783847703525

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