Luhmanns Spaziergang in den brasilianischen Favelas

Im Sammelband „Riskante Kontakte“ von Mario Grizelj und Daniela Kirschstein begegnen sich Postkolonialismus und Systemtheorie

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das systemtheoretische Konzept einer Weltgesellschaft ohne Außen ist wie geschaffen für eine postkoloniale Kritik. Niklas Luhmann gelangte in seinen späteren Schriften selbst zu einer Modifizierung systemtheoretischer Globalitätsannahmen, die sich insbesondere an dem Begriff der – in der Weltgesellschaft eigentlich nicht vorgesehenen – Exklusion festmachte: „Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muß man feststellen, daß es doch Exklusion gibt, und zwar so massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebendig wieder herauskommt, kann davon berichten“, schreibt Luhmann in „Jenseits von Barbarei“ nach einer Brasilienreise. Unabhängig von den exotistischen Elementen seiner Beschreibung hat sich der Systemtheoretiker hier ganz offensichtlich ein Stück weit von seinem Theoriegebäude entfernt und von unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen affizieren lassen.

Sucht man nach theoretischen Verbündeten der postkolonialen Studien, so denkt man an erster Stelle wohl an Poststrukturalismus und Dekonstruktion – kaum aber an die Systemtheorie. Dass es lohnend sein kann, beide ins Verhältnis zueinander zu setzen, zeigen Mario Grizelj und Daniela Kirschstein in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Riskante Kontakte. Postkoloniale Theorien und Systemtheorie?“. Das umfangreiche Buch begründet die Begegnung zwischen beiden Theorieansätzen nicht nur programmatisch, sondern spielt sie zugleich auch in mehreren Fallstudien und an Beispielen aus Gesellschaft und Literatur durch.

Dabei fällt die Distanz zwischen beiden schneller ins Auge als ihre möglichen Gemeinsamkeiten: Schließlich handelt es sich bei der Systemtheorie um eine Art Metatheorie, die in ihrem „Reinheitsbegehren“ (Koschorke) mit einem hohen Abstraktionsgrad operiert, während für die postkolonialen Studien – die Herausgeber tun gut daran, angesichts der internen Heterogenität dieses Forschungsfeldes den Plural zu wählen – ein politischer Anspruch im stetigen Mitdenken von Machtasymmetrien konstitutiv ist. Gut möglich, dass es tatsächlich neben methodologischen Gründen vor allem an wissenschaftshistorischen und wissenschaftspolitischen Umständen lag, dass Systemtheorie und postkoloniale Studien sich bisher nicht einander zuwandten. Tatsächlich geht es den Herausgebern auch nicht darum, eine möglichst große Nähe zwischen beiden Theorieansätzen zu postulieren. Viel eher möchten sie aufzeigen, wie der eine vom anderen profitieren kann, wo Reibungsflächen Erkenntnispotenzial abzugewinnen ist.

Die wohl bedeutendste Gemeinsamkeit zwischen postkolonialen Studien und Systemtheorie aber, der ein langes erstes Kapitel gewidmet ist, liegt im Kernkonzept der Differenz. Bei beiden handle es sich (ebenso wie bei Dekonstruktion und Gender Theorie) um Differenztheorien, die essentialistische Identitätspostulate ablehnen und stattdessen davon ausgehen, dass „Identitäten verschiedenster Ausprägung stets Effekte von Unterscheidungsleistungen sind.“ Entscheidend sei es nun, Differenztheorien als „Beobachtungstechniken“ aufzufassen, die Dispositionen solcher Unterscheidungen überhaupt erst sichtbar machen.

Der Postkolonialismus kennt zahlreiche Bestrebungen, binäre koloniale Unterscheidungen (Subjekt-Objekt, Stimme-Schrift, etc.) zu dekonstruieren und zu überwinden. Die Systemtheorie als Metatheorie wiederum geht von der grundlegenden Differenz von System und Umwelt aus, die überwölbt wird nur vom Weltbegriff. Sie geht aus von einer funktional differenzierten Gesellschaft, die multizentrisch und hyperkomplex ist. Durch den Kontakt mit postkolonialen Theorien könnte sie, so die Hoffnung der Autoren, ihre eigenen Prämissen als Theorie der Moderne überprüfen und sich ihrer blinden Flecken gewahr werden, die im unterbelichteten Zusammenhang von Identität/Alterität und „repressiver Repräsentation“ bestehen. Das hohe Abstraktionsniveau der prozessual-operativen Systemtheorie wiederum könnte „viele uneingestandene Implikationen postkolonialen Denkens beschreibbar“ machen. Insgesamt scheinen die Beiträge jedoch eher dazu angetan, die „Provinzialisierung“ der Systemtheorie zu betreiben, d.h. ihr vielleicht größtes Defizit: die mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber interkulturellen Fragestellungen durch die Konfrontation mit dem Postkolonialismus zu behandeln, als Interventionen in die umgekehrte Richtung vorzunehmen.

Inwieweit Luhmann selbst zunehmend Unbehagen an der systemtheoretisch konzipierten Moderne verspürte, zeichnen Lars Eckstein und Christoph Reinfandt in ihrem Beitrag „Luhmann in the Contact Zone“ suggestiv nach. Es sind dann vor allem Barbara Ventarolas Überlegungen zu „Weltliteratur(en) im Dialog“, die beidseitige Anschlussmöglichkeiten der Theorien detailliert und stringent aufschlüsseln. Vielleicht liegt das größte Verdienst der hier betriebenen „Kontaktaufnahme“ für die postkolonialen Theorien darin, mit dem globalen Abstraktionsanspruch eines (weitgehend) geschlossenen Theoriegebäudes konfrontiert zu werden und dadurch selbst dazu getrieben werden, die eigenen Theorie-Entwürfe zu präzisieren: entweder im entschiedenen Ablehnen der systemtheoretischen Prämissen und dem entsprechenden Argumentationsaufbau, oder im partiellen Einlassen auf einige ihrer Theoreme und vor allem auf ihre metatheoretischen Ansprüche. In diese Richtung weisend zeigt der Band tatsächlich, dass postkoloniale Theorien trotz ihres konkret-aktivistischen Ansatzes und ihrer politischen Motivierung „die Möglichkeit für abstraktes Argumentieren und Konzipieren liefern“, so Grizelj und Kirschstein.

Aufgefächert werden die Differenzen und Befruchtungen in die Sektionen „Kontakte“ – vornehmlich theoretisch orientiert –, „Welten“ – hier werden die theoretischen Begrifflichkeiten auf historische Lebensrealitäten angewandt –, und „Literaturen“ – die differenztheoretische Perspektive auf den Roman sowie konkret auf Robert Müllers „Tropen“ und Arthur Rimbauds „Une saison en enfer“.

Den Herausgebern ist es daran gelegen, ein „Denken im Dilemma“ in Gang zu setzen. Das Dilemma erkennen sie darin, einerseits den kolonialen Eurozentrismus nur unter Einbezug eurozentrischer Muster (wie sie z.B. die Systemtheorie liefert) dekonstruieren zu können, andererseits darin, Beobachtungsprozesse von Inklusion und Exklusion soziologisch beschreiben zu müssen, wie es die Systemtheorie tut, zugleich aber der „Nichttheoretisierbarkeit des Elends“ gewahr zu bleiben. Störend zumindest für Leser, die mit der Systemtheorie wenig vertraut sind, ist der Jargon – anders lässt sich der Stil insbesondere der Herausgeber nicht nennen: Da ist die Rede davon, „mithilfe von Differenzen Differenzen“ zu beobachten; davon, dass „der postkoloniale Beobachter, der den beobachtenden Beobachter beobachtet, beobachtbar wird.“ Dabei ist ihr Anliegen präzise formuliert und überzeugend dargestellt: nicht so sehr die Schnittmenge zwischen beiden Theorien soll zu Ungunsten der bestehenden Differenzen herausgestellt werden, sondern eine Abstraktionsebene etabliert werden, die es erlaubt, „die beiden bisher aneinander vorbeiargumentierenden Perspektiven in ein wechselseitiges Beobachtungsverhältnis zu setzen.“

Das Potenzial des „postkolonial-systemtheoretischen Experiments“ wird entsprechend dieses Anspruchs in zehn Beiträgen erkundet. Ob der Bindestrich zwischen dieser eingestanden asymmetrischen Konstellation produktiv ist, werden insbesondere weitere Fallstudien zu zeigen haben, die einige der in diesem Band geleisteten theoretischen Vorarbeiten aufgreifen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Mario Grizelj / Daniela Kirschstein (Hg.): Riskante Kontake. Postkoloniale Theorien und Systemtheorie?
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2014.
335 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783865992093

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