Wollüstige Gedankenstriche

„Der Augarten bey Wien“ erzählt von den frivolen Abenteuern eines jungen Fremden, enthält aber auch Nachbemerkungen zur Heterotopie des Ortes und zur Typografie des Erotischen

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kommt ein junger Mann nach Wien, um Liebesabenteuer zu erleben. Er hofft auf die „angerühmten Stubenmädchen“. Aber erst einmal passiert gar nichts. Das Wetter ist zu schlecht, um vor die Tür zu gehen. Er wirft schon einmal ein Auge auf die Wirtstochter Therese und schürt ansonsten seine Erwartungen und die des Lesers. Als der Regen aufhört, führt ihn sein Weg in den Wiener Augarten, einen öffentlichen Park, wo der Neuankömmling eine illustre Mischung von Einheimischen beim Picknick, Spazieren und Liebäugeln beobachtet, „Herren mit Ordensbändern, Damen mit Sternen, Stubenmädchen und Bürgerweiber, Militäre und Handwerksleute, Gelehrte und Kaufleute, Bediente, Schreiber Räthe, u.s.w. mit und ohne Familie, mit eigenen und geborgten Weibern, mit wirklichen Liebschaften oder nur Augarten-Plaisirs“. Dem Fremden gefällt, was er sieht, vor allem die „angenehmen Zirkel von jungen schönen Damen“. Doch man bleibt unter sich und dem neugierigen Beobachter nur eine weitere einsame Nacht voller vager Phantasien über die Reize der Wienerinnen. Wie magisch angezogen sucht er den Park am nächsten Tag ein weiteres Mal auf. Er trifft zufällig auf Therese, und der erhoffte Reigen erotischer Bekanntschaften wird angestoßen.

Die Wirtstochter „Thereschen“, das Stubenmädchen „Beatchen“, die zunächst geheimnisvoll verschleierte Generalsgattin „Mariandl“ und die namenlos bleibende Tochter eines Oberst-Wachtmeisters – Männerfantasien werden wahr. Am Ende sind alle Beglückten schwanger, ehelich versorgt und später mit gesunden, wenn auch „vor der Zeit“ geborenen Kindern gesegnet. Die Ehemänner sind Gehörnte, ahnungslos und friedlich. Mariandls Gatte, ein alter Haudegen, der nur noch bei der Jagd zum Schuss kommt, ist sogar besonders stolz auf seine vermeintliche späte Vaterschaft. Der junge Liebhaber zieht zufrieden weiter, neuen erotischen Abenteuern entgegen.

Soweit das, was erzählt wird. Bemerkenswerter ist jedoch, was nicht erzählt wird und vor allem wie es nicht erzählt wird. Das dem Leser etwas vorenthalten wird, machen die zahlreichen Gedankenstriche kenntlich, teils über zwei Seiten, teils als einzelne Auslassungszeichen im Text. Simon Bunke, der Herausgeber des Bandes, sieht hier eine ganze „Poetik der Gedankenstriche“ umgesetzt. Er unterscheidet drei Ebenen, auf denen die Gedankenstriche auftreten: im Sprechen der Figuren, in der Schilderung durch den Erzähler und in der Typografie, die gestrichene Passagen als zensierende Eingriffe textexterner Instanzen erscheinen lässt. Die gezielte Analyse einzelner Textstellen zeigt jedoch auch, dass der anonyme Autor ein bewusstes, virtuoses Spiel mit dem Gebrauch der Auslassungszeichen auf und zwischen den verschiedenen Ebenen inszeniert. Bunkes skizzierte Poetik der Gedankenstriche zeigt, wie erotische Texte funktionieren und wie der Leser durch die suggestive Wirkung der inszenierten Fehlstellen zum Komplizen der Übertretung gemacht wird. Das Unausgesprochene der Fehlstellen, die Übertretungen anzeigen, ohne sie auszuformulieren, markiert dabei die „Schwelle des Erotischen“ (Bunke), die den vorliegenden Text von Pornografie unterscheidet.

Nach Umberto Ecos Definition („Come riconoscere un film porno“ in „Il secondo diario minimo“) ist es vor allem die „tote Zeit“ zwischen den expliziten Übertretungen, die pornografische Werke klassifiziert. Im vorliegenden Text hingegen wird die Zeit zwischen den signalisierten Übertretungen zwar mit voyeuristischen und retardierenden Vorzeichen erzählt und von den eindeutigen, ausschließlichen Absichten des Protagonisten bestimmt, wird aber auch genutzt, um die Geschehnisse sozial und topografisch zu verankern. Die im Vergleich zum Umgang mit den Bürger- und Dienstmädchen gesteigerte Raffinesse in den erotischen Begegnungen mit der Generalsgattin belegt dies ebenso wie die schrittweise Annäherung an den Ort und an die Augarten-Gesellschaft als Ausgangspunkt der erotischen Abenteuer. Bunke findet in der besonderen, „anderen“ Atmosphäre des titelgebenden Wiener Parks die Merkmale einer Heterotopie nach Foucault wieder, ein plausibler Ansatz, der hier überzeugt und das Potential zu weitergehenden, generelleren Überlegungen zur Heterotopie von Gärten und Parkanlagen birgt. Ergänzend sind der Edition historische und literarische Fundstücke zum Augarten beigefügt, die sowohl die Erzählung als auch das kommentierende Nachwort mit einem aussagekräftigen Kontext in Wort und Bild versehen.

Titelbild

Anonym: Der Augarten bey Wien. Eine erotische Erzählung.
Herausgegeben und kommentiert von Simon Bunke.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2014.
164 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783865251596

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