Notizen aus dem „popeligen“ Jena

Matthias Steinbach und Uwe Dathe geben mit den Tagebüchern des Jenenser Historikers Alexander Cartellieri einen geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Schatz heraus

Von Julian KöckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Köck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts zu betreiben, ist zumeist ein mühsames und strapazierendes Unterfangen: Man ertrinkt förmlich in der Vielzahl der Quellen, zu jeder Position finden sich zig Gegenpositionen und dann besteht immer noch die Gefahr, den Ansprüchen der modernen Sozialgeschichte nicht Genüge zu tun sowie die Mentalitäten der untersuchten Denker und mehr nicht berücksichtigt zu haben. Aber es gibt auch Quellen, die all diese Probleme vergessen lassen, da sie ein so umfassendes Bild der Vergangenheit entwerfen, wie dies in den gelehrten Fachbüchern nur selten gelingt. Um eine solche Quelle handelt es sich bei den kürzlich erschienenen Tagebüchern des Jenenser Historikers Alexander Cartellieri.

Die Herausgeber, darunter der Cartellieri-Biograf Matthias Steinbach, haben eine hervorragende Auswahl der Tagebucheinträge getroffen, die einen direkten Blick in das Leben eines deutschen Historikers zwischen 1899 und 1953 ermöglicht. Der quantitative Schwerpunkt der Einträge liegt in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Die damals virulente „Krise des Historismus“ lässt sich bestens an Cartellieris Einträgen nachvollziehen. Die vor seinem 1902 erfolgten Ruf nach Jena geleistete Bearbeitung der bischöflichen Regesten von Konstanz beschäftigte ihn im Rückblick noch lange. Sie erschien ihm zunehmend als sinnlose Verausgabung seiner Energien. Aber auch sein vierbändiges Hauptwerk über Philipp II. August konnte ihn nicht wirklich befriedigen, lieber wollte er Weltgeschichte treiben, mehr sein als ein hochspezialisierter Fachmann: „Meine Seele schreit nach grösserer und breiterer Wirksamkeit!“ Da ist es auch kein Wunder, dass er sich immer wieder selbst der Sinnhaftigkeit seiner Betätigungen versichern musste.

Cartellieri war, wie man damals sagte, national eingestellt. Ging es um Sozialisten und Sozialdemokraten, schrieb er nur abfällig von „Sozzen“. Mit Kollegen wie Bruno Bauch, Max Wundt und dem Germanisten Hans F. K. Günther, den die Nationalsozialisten bereits 1930 gegen den Widerstand der Universität Jena auf einen Lehrstuhl für Sozialanthropologie gesetzt hatten, pflegte er persönlichen Umgang. Auch war er beeindruckt vom „Rembrandtdeutschen“ Julius Langbehn und unterstützte Ludwig Schemann auf dessen Werbefeldzug für die Rassentheorie des französischen Grafen Gobineau. Aber er bewahrte sich eine gewisse Distanz und gedanklichen Freiraum. Gerade eine plumpe, alles auf die Rasse zurückführende Betrachtung der Geschichte lehnte er als wissenschaftlich ungenügend ab. Sein Interesse war nicht ontologisch, sondern politisch motiviert. Immer ging es ihm um die Stärke Deutschlands.

Seine Wahrnehmung der eigenen Zeit stand im Schatten der Geschichte, die für ihn überzeitlichen Charakter hatte. Den Vormarsch der deutschen Truppen in Norditalien kommentierte er wie folgt: „Schatten des deutschen Kaiser! Werdet wieder lebendig! Gebeine deutscher Ritter, richtet Euch wieder auf und wandert die altgewohnten Wege nach dem schönen Süden!“ An einem Sieg der deutschen Waffen hatte der, selbst übrigens ganz unmilitärische, Cartellieri bis zuletzt keinen Zweifel. Umso härter traf ihn die Niederlage und die Revolution.

Wir erfahren aber nicht nur von diesem überspannten Nationalismus, sondern auch von den Sorgen des Familienvaters Cartellieri, von seiner Angst um den Sohn an der Front, der sich verschlechternden Ernährungslage daheim und den Veränderungen an der Universität. Dort hatte er auf einmal fast nur noch weibliche Studentinnen sitzen, was vom konservativen Ordinarius, der in seiner eigenen Ehe unter einem echten oder vermeintlichen Interessensmangel seiner Frau an seiner Arbeit litt, durchaus eine Umgewöhnung erforderte. Entsprechend mussten ihn die jungen Frauen auch darauf hinweisen, dass sie keine Schülerinnen mehr seien und das Niveau entsprechend erhöht werden könne. Cartellieri war durchaus bereit, dazu zu lernen. So promovierte eine ganze Reihe von Studentinnen mit guten Noten bei ihm, und auch gegen das Studium der eigenen Tochter scheint er nichts gehabt zu haben.

Glaubt man den Tagebucheinträgen, dann muss es sich bei Cartellieri um einen introvertierten Menschen gehandelt haben, der sich unter Menschen nicht wirklich wohl fühlte. Immer wieder finden sich Berichte von Veranstaltungen, ganz gleich ob Burschenschaftstreffen, Universitätsbällen oder Kongressen, an denen er nur aufgrund des sozialen Drucks teilnahm. Seinem Wunsch nach im weiteren Sinne politischer Wirkung stand dies genauso im Weg wie sein uneleganter Schreibstil: Publizistisch betätigte er sich, mit sehr wenigen Ausnahmen (er schrieb hin und wieder unter Pseudonym in Eugen Diederichs’ „Die Tat“), nicht. Dies und seine Geringschätzung des „popeligen“ Jenas, aus dem ihm kein Ruf erretten sollte, beschäftigte ihn durchgängig. An einer Stelle bezeichnete er es ironisch als eine seiner Leistungen, dass sein Ausdruck vom „Popel“ Jena Verbreitung fand. Überhaupt hatte Cartellieri Sinn für trockenen Humor. Über Mommsens Schwiegersohn heißt es beispielsweise: „Wilamowitz fiel durch seine Eitelkeit noch mehr auf als durch seine Orden: aber ein schöner Kopf.“ Im Tagebuch lassen sich viele solcher Bemerkungen und Kommentare zu Zeitgenossen Cartellieris finden. Vom Charakter der damaligen Gelehrtenwelt war er nicht überzeugt. Häufig finden sich negative Auslassungen. Gerade die Kollegen in Jena kamen nicht gut weg: „Wie klein würde mancher Kollege dastehen, wenn ihn die Examenskandidaten nicht fürchten müssten.“

All das sind nur Beispiele für die Vielzahl von unterschiedlichen Themen, die sich in den Tagebüchern finden und entsprechend untersuchen lassen. Mit Hilfe des Registers am Ende lässt sich hervorragend mit dem Band arbeiten. Die Kommentierung der Herausgeber ist recht knapp, was der Lesbarkeit des Textes zugutekommt, aber hilfreich. Nur an wenigen Stellen würde man sich ausführlichere Informationen wünschen. Dennoch bietet es sich an, die Cartellieri-Biografie von Matthias Steinbach bei der Lektüre der Tagebücher zur Hand zu haben. Immer wieder wird auf die „Erinnerungen“ Cartellieris rekurriert; deren Veröffentlichung wäre mit Sicherheit ein lohnendes Unterfangen.

Wer sich in der Zukunft mit der Geschichte der deutschen Gelehrtenwelt im 20. Jahrhundert beschäftigen möchte, wird an den Tagebüchern (trotz des sehr hohen Preises) nicht vorbei kommen. Cartellieris Wunsch nach Wirksamkeit über seine eigenen Forschungsthemen hinaus hat sich damit mit Verspätung, und sicher anders als er dachte, erfüllt.

Titelbild

Matthias Steinbach / Uwe Dathe (Hg.): Alexander Cartellieri. Tagebücher eines deutschen Historikers. Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit (1899-1953).
Oldenbourg Verlag, München 2014.
980 Seiten, 148,00 EUR.
ISBN-13: 9783486718881

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch