Vom langen Erwachsenwerden

Angelika Klüssendorfs Roman „April“ steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis

Von Nils DemetryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Demetry

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer frühen Szene im Roman April von Angelika Klüssendorf deuten sich die zentralen Themen des Werks bereits an: „In ihrem Zimmer hört April zuerst die Platte mit der Musik von Gustav Mahler, hört sie sich ein zweites Mal an und wieder und wieder bis weit nach Mitternacht. Sie steht am Fenster und schaut in die Nacht, die Töne treffen sie mit einer Wucht, auf die sie nicht vorbereitet gewesen ist“ – die Kunst, die Macht und die Einsamkeit. Nicht nur auf die Wucht Mahlers, sondern auch auf die des Lebens selbst ist April nicht vorbereitet.

April ist die Fortsetzung des von der Kritik gelobten Romans Das Mädchen (2011) von Klüssendorf. Das namenlose Mädchen von einst hat sich nun selber einen Namen gegeben, „April“, nach einem Song von Deep Purple. Gerade volljährig, wohnt sie nun zur Untermiete bei Frl. Jungnickel, einer so verschlossenen wie feindseligen älteren Dame, die lieber mit ihrem Vogel „Bubi“ als mit dem jungen Mädchen spricht, und bekommt eine Stelle im VEB Kombinat Starkstromanlagenbau Leipzig zugewiesen.

Doch die anfängliche Freude über die neue Freiheit wird recht schnell getrübt, versehentlich setzt April die Wohnung in Brand, auf der Arbeit gibt es Probleme und immer noch wird April von ihrem saufenden Vater und der gewalttätigen Mutter verfolgt: Wie die Hauptfigur in ihrem Lieblingsmärchen, Das kluge Grethel, entwickelt sie einen ausgeprägten Hang zum Alkohol, zum Rausch und zur Zügellosigkeit, wieder (wie schon in Das Mädchen) versucht sie sich (vergeblich) selbst das Leben zu nehmen. Immer noch ist die Literatur, ist die Kunst ihre vermeintliche Rettung und „nur der Glaube, dass, wenn sie erst erwachsen wäre, alles anders sei, hat sie durchhalten lassen“.

Dieses Erwachsenwerden erweist sich für April zunächst als fast unlösbare Aufgabe, ihre Liaisons mit sonderbaren Männern rühren zumeist aus ihrer naiv anmutenden Sehnsucht nach der Welt der Literatur und des Denkens und verblassen oftmals so schnell, wie sie begannen. „Sie hat das Gefühl, noch in der Kindheit verhaftet zu sein, ein Mädchen, das versucht, sich wie eine Frau zu verhalten, ohne die unsichtbare Grenze dazwischen zu überwinden“.

April ist sich ihrer Tollheit halb bewusst, doch die Auseinandersetzung mit den eigenen Traumata fällt ihr naturgemäß schwer und so führt ihre verzweifelte Suche nach einer eigenen Identität, die erst durch die kühle, fast teilnahmslose Prosa Klüssendorfs ihre ganze Tragik offenbart, fast folgerichtig in die Nervenklinik. Zwar wird sie auch hier mehr verwaltet als behandelt, doch zumindest lernt sie David kennen, einen manischen jungen Künstler, der von der Farbe Rot beherrscht wird und dessen Plan es ist, mit einer Leiter über die Berliner Mauer zu klettern, um sich dort erschießen zu lassen. Der Grund: „Nur so ein blödes Gefühl und die Vorahnung von viel zu viel Rot“.

Tragik und Komik halten sich auch an anderen Stellen die Waage: An einem frühen Punkt im Roman treffen Aprils Noch-Freund Frieder und der zauselige Dissident Sven, mit dem bislang nur Briefkontakt bestand, in Aprils Zimmer aufeinander: Der sonderbare Gast, von dem April sofort weiß, wer er sein muss, bewegt sich wie selbstverständlich in seinen „Jesuslatschen ohne Strümpfe“ durchs Zimmer, nimmt ein Buch aus dem Regal und liest eine Weile wortlos (und zum ungläubigen Erstaunens Aprils und ihres Freundes) darin, bis er sich an Frieder wendet: „Erzähl mir von ihr.“ Fast überflüssig zu erwähnen, dass Sven und April ein Paar werden.

In diesem knappen und eleganten Stil wird Klüssendorfs Nähe zu einem anderen deutschsprachigen Stilisten deutlich, Daniel Kehlmann nämlich, der wie Klüssendorf weiß, dass Ironie die Folge der Kollision von Selbstbild und Realität ist. Doch das allzu naheliegende Betätigungsfeld für derlei Techniken, etwa die Beschreibung und Entlarvung des damaligen Unrechtsstaats, findet in April keine Anwendung; die Sorgen der in Wahrheit ziemlich unpolitischen Protagonistin sind andere und „der Kontrollapparat DDR fungiert nur noch als Verstärker eines tiefer sitzenden Unbehagens“ (Christoph Schröder im Tagesspiel).

Sie lernt Hans kennen, einen Choreographiestudenten mit schicker Altbauwohnung; es wird ihre erste „richtige“ Beziehung, sie erzählt ihm aus ihrer Kindheit, er ermuntert sie, zu schreiben. So kommt April diesem „Erwachsenwerden“ näher, doch es strengt sie an: Geht es um Sex, versucht sie sich an Liebesfilmen zu orientieren, doch das Vorspielen und Vortäuschen kommen ihr falsch vor; in den intellektuellen Tischgesellschaften, zu denen Hans und sein Bruder laden, meldet sie sich aus Scham kaum zu Wort.

Trotzdem ist sie es, die eines Tages, inzwischen Mutter, eine Entscheidung trifft: „Wir sollten hier endlich verschwinden, sagt April zu Hans, wir sollten dieses Land verlassen. Sie sagt das ins Blaue, hat keine Vorstellung, was damit verbunden ist“. Denn auch wenn sie gemeinsam mit einer Freundin eine Untergrundmappe mit dem Titel „Anschlag“ herausgibt, in der die beiden Fotografien, Grafiken und Texte befreundeter Künstler zusammenstellen: eine Dissidentin ist sie nicht.

Dass der Umzug nach West-Berlin so auch nicht die Lösung für Ihre Probleme sein kann, versteht sich von selbst. Denn auch hier droht sich April in der Halbwelt der Kneipen und Bars zu verlieren: Sie entfremdet sich von ihren Mann und zu den alten Wunden ist nun ein vages Gefühl der Heimatlosigkeit hinzugekommen.

Schwächen offenbart April nur an wenigen Stellen: Die Klarheit, mit der Klüssendorf das Dilemma ihrer Figur erzählt, rutscht manchmal leider ungewollt in die Sprache psychologischer Diagnosen: „Die Frauen im Büro nennt sie Juchteln. Herr Blümel ist ebenfalls eine Juchtel, als einziger Mann unter Frauen kann er nichts anderes sein, und auch ihm ordnet sie die Eigenschaften einer Frau zu: Verschlagenheit, Zorn und Schwäche.“ Dass für April das Wesen des Weiblichen durch die genannten Attribute konstituiert wird, wirkt zwar stimmig und nachvollziehbar, jedoch nehmen sich solche fast schon pathologischen Zuschreibungen gegen den grundsätzlich subtileren Tonfall etwas grob aus.

Auch könnte man es schade nennen, dass Klüssendorf nach einem über zweihundertseitigen mitreißenden Parforceritt durch die Anamnese der namensgebenden Heldin mit einem sehr knappen Epilog endet, der schon zu deutlich in Richtung zweiter Fortsetzung schielt. Trotzdem macht Klüssendorfs knapper und sehr zeitgemäßer Stil eine Lektüre von April unabhängig davon sehr reizvoll.

Klüssendorf stand bereits 2011 mit Das Mädchen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Wenngleich sich natürlich ein Vergleich mit Uwe Tellkamps Der Turm und Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts, zwei Siegern des Deutschen Buchpreises aus den vergangenen Jahren, aufgrund der DDR-Thematik aufdrängt, ist April nicht zwingend ein DDR-Roman. Aprils Probleme sind nicht in erster Linie politische; mit diesem Elternhaus – man muss es so sagen – hätte sie überall Schwierigkeiten gehabt. Dafür aber wirft das Werk Licht auf eine soziale Realität des real existierenden Sozialismus, der manchmal zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Denn dass es auch in der DDR etwas gegeben haben könnte, das wir heute „im Westen“ vage mit „Prekariat“ oder „bildungsferne Schichten“ bezeichnen, ist selten Gegenstand der Betrachtung.

Selbstverständlich ist April kein zeitloses, ahistorisches Werk, aber es entzieht sich tendenziell der üblichen reflexhaften historischen Einordnung, die oft mit Fragen nach den „autobiographischen Anteilen“ im Werk einhergeht und die auch in der aktuellen Rezeption wieder eine Rolle spielen. So verzichtet Klüssendorf auch komplett auf konkrete Jahreszahlen, eine zeitliche Verortung ist nur durch die im Roman geschilderten gesellschaftspolitischen Bedingungen und kleine popkultureller Verweise möglich. Klüssendorfs Thema ist eben ein anderes und nicht umsonst nannte die Zeit April eine „Heldin unserer Zeit“.

Gegen Ende, vermutlich Mitte der achtziger Jahre, – April lebt da schon einige Jahre in West-Berlin – wenden sich die Dinge ganz zaghaft zum Guten: Sie reist mit ihrem neuen Freund Michael, einem Maler, nach Italien und wird am Literaturinstitut angenommen, sie schreibt nun regelmäßig, endlich empfindet sie „wirkliche“ Mutterliebe für Ihren Sohn Julius. Und zuhause, in Leipzig, da schaut Erich Honecker weiterhin „im taubenblauen Anzug ungerührt von den Klinikwänden.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Angelika Klüssendorf: April. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
219 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462046144

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