Generation Sofa

Michele Serra wirft in „Die Liegenden“ einen Blick auf die Welt der heute Heranwachsenden

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einmal auf den Colle della Nasca will er mit seinem Sohn. Einmal diesen Berg besteigen, den er selbst mit seinem Vater so oft bestiegen hat. Einmal ganz früh im Dämmerlicht des Tagesbeginns aufbrechen, die Nebel steigen sehen, die frische Morgenluft atmen und sich frei, als Teil der Natur, fühlen. Doch der Sohn schläft, als der Tag graut. Und er schläft immer noch, als der Vater schon am Schreibtisch sitzt und es langsam Mittag wird. Denn der Sohn gehört zu einer Generation, die am liebsten liegt. Deshalb „Die Liegenden“. Deshalb die Verzweiflung des Vaters. Deshalb dieses kleine Buch.

Michele Serra ist in Italien ein Star. Einer, dessen Kolumnen man in „La Repubblica“ und „L’Espresso“ liest. Einer, der verschmitzt aussieht auf den Bildern, die von ihm kursieren. Verschmitzt, intelligent und nachdenklich. 1954 in Rom geboren, lebt der vierfache Vater und Autor zahlreicher Bücher heute in Mailand. Und mit „Die Liegenden“ hat er einen Erfolg auf dem italienischen Buchmarkt gelandet, der zeigt, dass das Problem, das er in diesem Büchlein bearbeitet, ein brennendes sein muss.

Worum geht es also? Kurz gesagt: Um die Schwierigkeiten, die stets auftreten, wenn eine nachfolgende Generation sich anschickt, in die Fußstapfen ihrer Väter und Mütter zu treten. Um das, was man sich angewöhnt hat, den „Generationskonflikt“ zu nennen. Um das Unverständnis der Alten den Jungen gegenüber. Und um die Gleichgültigkeit der Jungen, die einfach nicht hören wollen, was Alter und Erfahrung ihnen predigen, sondern unbeirrt und so blind wie taub und stumm den eigenen Weg beschreiten.

Aber ist „beschreiten“ noch das richtige Wort zur Erfassung dessen, was Jugendliche heute tun? Liegen unsere jungen Menschen nicht tatsächlich bis zum Mittag in ihren Betten? Und stehen nur auf, um sich gleich darauf wieder hinzulegen? Vor ihre Laptops, Tablets und Spielkonsolen? Verkabelt, vernetzt und verschlossen jedem guten Argument gegenüber? Hat der jahrtausendealte Streit zwischen denen, die schon ein bisschen länger leben auf dieser Erde und jenen, die sich gerade anschicken, hineinzuwachsen in ihre Zukunft, nicht heute eine ganz neue Dimension erreicht? Und was soll man tun als Vater und Mutter, wenn man vor all diesen unaufgeräumten Zimmern steht, hilflos mit ansehen muss, dass sich die Sprößlinge weder um Tages- noch Jahreszeiten bekümmern und alles, was früher das Zurücklegen einer Wegstrecke erforderte, über das Handy erledigen?

Serras Kernsatz – und der ist, auch wenn ein Großteil der in „Die Liegenden“ versammelten Polemik witzig-eloquent übertreibt, wohl ernstzunehmen – lautet: „Eine Welt, in der die Alten arbeiten und die Jungen schlafen, so etwas hat es noch nie gegeben.“ Von hier aus liest sich das Buch, das eigentlich mehr von der Desorientiertheit der Erwachsenen handelt als von jener der 15- bis 18-Jährigen, die sie nicht mehr verstehen, tatsächlich ernster. Also was soll man tun? Die Kinder wieder an die Kandare nehmen, wie das die Großväter und Großmütter noch erlebten, damit früh klar wird, dass das Erwachsenenleben tatsächlich kein Zuckerschlecken ist? Durchgreifen beziehungsweise auf einen Durchgriff warten, wie ihn einst die großen Kriege darstellten? Oder vielleicht doch darauf vertrauen, dass der Zeitpunkt kommt, wo sich auch der letzte „Liegende“ hochgerappelt haben wird?  

Michele Serras Traktat ist kein Erziehungsratgeber, auch wenn es Szenen enthält, in denen heutiges elterliches Anspruchsdenken gehörig auf die Schippe genommen wird. Es ist auch kein Vademecum für eine hoffnungslos überforderte Elterngeneration. Am ehesten ist es, bei aller Klage, die seine Abschnitte erheben, ein Aufruf zur Gelassenheit. Witzig und amüsant bis auf jene überflüssigen Kapitel, in denen der sich über seinen Sohn echauffierende Vater von einem Romanprojekt mit dem Titel „Der Letzte Große Krieg“ erzählt, an dem er sitzt. Solche Sachen können andere wirklich besser!

Am Ende jedenfalls bringt der Vater seinen Sohn doch noch dazu, ihn bei Sonnenaufgang auf den Colle della Nasca zu begleiten. Und aus dem Liegenden wird plötzlich ein Bergsteiger. Einer, der den Gipfel erreicht, wo der Erzeuger noch auf halber Höhe herumschnauft. Also: Wer sagt’s denn?  

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Michele Serra: Die Liegenden.
Übersetzt aus dem Italienischen von Julika Brandestini.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
149 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783257862492

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