Beruhigende Unterhaltung statt nützlicher Unterweisung

Markus Pahmeier befragt in seinem Buch „Die Sicherheit der Obstbaumzeilen“ Adalbert Stifters Literatur auf ihren volksaufklärerischen Gehalt

Von Jesko ReilingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jesko Reiling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Werk Adalbert Stifters fordert die Leser bis heute heraus: Wo der eine angesichts der beschaulich-langatmigen Natur- und Landschaftsschilderungen gelangweilt das Buch beiseite legt, freut sich der andere an der beeindruckend präzisen Sprachkunst des Dichters. Die Urteile sind dementsprechend ambivalent. Mal wird Stifter für seine lebensnahe Literatur und seinen ‚naturalistischen‘ Schreibstil gelobt, mal für seine ‚verklärende‘ oder lebensferne Literatur kritisiert. Markus Pahmeier gehört zu den realistischen Lesern und attestiert Stifters Werken, dass sie „Bezüge zu einer außerliterarischen Realität“ aufweisen und „Lebenspraktisches erzählen“. In seiner Studie widmet sich Pahmeier einem besonderen Aspekt dieser Lebenspraxis: der Volksaufklärung und wie sie Stifter literarisch darstellt.

Pahmeier verfolgt in seiner 2013 als Dissertation eingereichten Untersuchung zwei Thesen, nämlich dass Stifter in seinen literarischen Werken Themen der Volksaufklärung aufnimmt und zudem Schreibweisen literarischer Volksaufklärungsschriften übernimmt. Das große Verdienst Pahmeiers besteht darin, dass er damit eine Forschungslücke schließt. Bislang gab es keine systematische Untersuchung zu diesem Themenbereich, lediglich in verschiedenen kleineren Arbeiten wurden Bezüge zwischen Stifter und der Volksaufklärung erhellt. Pahmeier unterzieht den Roman Der Nachsommer sowie einige Erzählungen (Die Mappe meines Urgroßvaters, Brigitta, Zwei Schwester) einer äußerst genauen Lektüre und kann so eine Vielzahl von Belegstellen für seine Thesen anführen. Es geht in ihnen um Fragen der Land-, Garten- und Hauswirtschaft, um klimatologisches und meteorologisches Wissen, um Gesundheit und Hygiene sowie um moralisch richtiges Verhalten, um Erziehungsfragen und um die Sorge fürs Allgemeinwohl – kurz, um jene Themen, um die sich die Volksaufklärung seit dem 18. Jahrhundert besonders kümmert.

Diese Themen arbeitete Stifter in seine Literatur ein, die man deshalb aber freilich nicht zur Volksaufklärung rechnen sollte, wie Pahmeier deutlich macht. Stifter schreibe nicht für das ‚gemeine‘, eher nur wenig gebildete Volk, seine im Vergleich deutlich komplexeren Erzählverfahren setzen eine höhere Lektürekompetenz voraus, und zudem gehe es ihm auch nicht in demselben Ausmass um die Belehrung des Lesers wie der Volksaufklärung. Durch die Aufnahme volksaufklärerischer Themen und Schreibweisen kommt diesen in Stifters ‚hoher‘ Literatur eine neue Bedeutung zu. Den bürgerlichen (vorwiegend städtischen?) Lesern möchte Stifter, so Pahmeier in seiner nicht sonderlich originellen, aber kaum zu widersprechenden Lesart, „Alternativen bzw. Ausgleiche zu Modernisierungsprozessen“ und „zu existenziellen Unsicherheiten“ der Zeit aufzeigen. Volksaufklärung nicht als nützliche Unterweisung, sondern als beruhigende Unterhaltung für höhere Schichten, das ist zwar eine griffige Formel für Pahmeiers Studie, der jedoch leider der Nachweis fehlt, ob die damaligen Leser Stifter auch tatsächlich auf diese postulierte Weise gelesen haben.

Man ginge zu weit, wollte man nun vorschnell das Diktum über Stifter als Idyllendichter hervorholen. Pahmeier weist mit Nachdruck darauf hin, dass Stifter das Landleben nicht einfach als ideales Gegenbild der zunehmend städtisch-industriell geprägten Arbeitswelt mit all ihren vorwiegend als negativ angesehenen sozialen Begleiterscheinungen verklärt. Durch den Vergleich mit volksaufklärerischen Schreibweisen kann Pahmeier nachweisen, dass Stifter sich vielmehr vor einem einfach bipolaren Moralismus hütet und gerade keine Schwarz-Weiß-Malerei betreibt. Auch die Tatsache, dass Stifter die Vermittlung agrarwirtschaftlichen Wissens deutlich zurücknimmt, zeigt, dass er das Landleben nicht pauschal seinen Lesern als Lebensort beziehungsweise Lebensform empfehlen wollte. Dass Stifter sich durchaus bewusst von eindeutigen und einfachen Erzählstrukturen und -mustern abgrenzte, zeigt indirekt auch seine einzige genuin volksaufklärerische Erzählung. In seiner Kalendergeschichte Zwei Witwen, die 1860 im Österreichischen illustrierten katholischen Volkskalender für das Jahr 1860 erschien, arbeitete Stifter mit dem traditionellen volksaufklärerischen Tugend- und Laster-Schema, in das er seine Protagonisten einfügte. Die positiven Eigenschaften der Hauptfiguren lassen sich schon an deren Namen ablesen: Crescentia und Clara.

Pahmeier stellt den Leser seiner Studie ebenso auf die Probe, wie es Stifter tut: Die bewusst „sehr positivistisch“ angelegte Sammlung von Belegstellen zeugt zwar von großer wissenschaftlicher Sorgfalt, ist für den Leser auf Dauer jedoch ermüdend. Etwas weniger Referat, dafür mehr Mut zur Deutung hätte hier belebend wirken können. Das gilt auch für die kurzen methodologischen Ausführungen. Unnötigerweise konzentriert sich Pahmeier vor allem auf das Lehr- und Exempel-Buch, worin sonnenklar gezeigt wird, wie der Ertrag des geringsten Gutes in kurzer Zeit außerordentlich erhöht werden kann von Johann Evangelist Fürst, um den Nachweis zu erbringen, dass Stifter volksaufklärerische Themen rezipierte. Dabei reichen schon die von Pahmeier ebenfalls beschriebenen biografischen Anhaltspunkte aus, um nachzuweisen, dass Stifter die Volkaufklärung nicht nur aus diesem Buch kannte: Stifter hatte in Wien Kontakte zu Adligen, die sich nicht nur auf ihren Ländereien für agrarische Reformen einsetzten, er schrieb für den Wiener Boten, einer gemäß Pahmeier volksaufklärerischen Tageszeitung, und war darüber hinaus jahrelang als oberösterreichischer Schulrat und Volksschulinspektor tätig.

Dass sich gleichsam neue Horizonte auftun können, wenn man nicht nur einen Einzeltext (wie es Pahmeier tut), sondern den allgemeinen Diskurs als Referenzrahmen heranzieht, deutet Pahmeier selbst an. Im Rückgriff auf Arbeiten seines Bielefelder Doktorvaters Wolfgang Braungart, bei dem vorliegende Studie entstanden ist, fragt Pahmeier nach einer möglichen thematischen Ausweitung seiner Erkenntnisse im Hinblick auf die allgemeine Realismus-Forschung: „Sind volkaufklärerische Themen und Schreibweisen vielleicht generell eine bisher unterschätzte Quelle realistischer Themen und Schreibweisen?“ Damit hat sich Pahmeier die Aufgabe für weitere Studien quasi selbst gestellt; auf seine Antwort sind wir gespannt.

Titelbild

Markus Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen. Adalbert Stifters literarische Volksaufklärungsrezeption.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2014.
526 Seiten, 74,00 EUR.
ISBN-13: 9783825362928

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