Heimischer Exotismus

Zu Hans Richard Brittnachers umfangreicher Untersuchung über „Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst“

Von Jürgen RöhlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Röhling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie gelten als das geheimnisvolle Volk Europas und sind wie keine andere Gruppe der Stereotypisierung und Klischeebildung unterworfen: „Zigeuner“. Ihr Bild in Literatur, Kunst, Musik oder Film ist schillernd, mal romantisch-verklärend, mal abstoßend. Es gibt die schöne, verführerische Zigeunerin in Oper und Malerei ebenso wie die alte hässliche, die als Wahrsagerin oder Magierin in Balladen und Erzählungen für Gruseln sorgt. Ob vordergründig positiv oder eindeutig negativ, Zigeuner sind stigmatisiert, besonders, anders. Daran ändert auch die heutzutage für korrekter gehaltene Bezeichnung als „Sinti und Roma“ nichts. Antiziganismus ist alltäglich und allgegenwärtig, unlängst in Reaktionen auf Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien zu sehen – auch hier ging es, wenn auch unter strikter Vermeidung jedweder Benennung, um „Zigeuner“.

Das historische Bild vom Zigeuner und der Zigeunerin, das Hans Richard Brittnacher mit zahlreichen Beispielen aus Literatur, Malerei und Musik entwirft, ist vielfältig und doch meist erschütternd eindeutig. Zigeuner gehören zum festen Bestand der Kultur, sie begegnen in Erzählungen und Opern, in Film und Fernsehen. Auch wo den Zigeunern eine ureigene Faszination zugeschrieben wird, etwa im Bild des mitreißenden Musikers und der temperamentvollen glutäugigen Schönheit, ist das böse Ende, die „mortifizierende Konsequenz“ stets mitgemeint. Die neidvoll gesehene Freiheit der Zigeuner ist immer auch ihre Vogelfreiheit – wer nicht in der Gesellschaft zuhause ist, genießt auch nicht ihren Schutz. Dass Zigeuner viel mehr „können“ als andere, wie Kartenlegen, Handlesen oder Wahrsagen, verschafft ihnen Bewunderung und zugleich Abscheu – wer das kann, ist sowohl mit allen Mächten der Natur, aber auch mit dem Teufel im Bunde, wie schon in Johann Wolfgang von Goethes virtuos mit Klang und Andeutungen spielendem „Zigeunerlied“: „Im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee, / Im wilden Wald, in der Winternacht, / Ich hör der Wölfe Hungergeheul, / ich höre der Eule Schreien. – Wille wau wau wau / Wille wo wo wo. – Withe hu.“

Goethes Götz, in dem dieses Gedicht zuerst auftauchte, schlägt den Bogen von der unheimlichen, aber noch nicht eindeutig negativen Magie des Zigeunergesangs zur Verortung der Fremden im Kriminellen, wenn Götz sich mit den Worten: „Sie sollen einen Zigeuner zum Hauptmann machen, nicht mich“ das Mordgeschäft den anderen zuschreibt. So wird in Brittnachers umfangreicher Untersuchung immer wieder deutlich, dass das bei aller Klischeehaftigkeit doch ungemein variationsreiche Zigeunerbild der Selbstvergewisserung der Mehrheitsgesellschaft dient, indem sie sich der „Zigeuner“ als Bild zur Abgrenzung und Negativorientierung bedient. Schwerpunkt der zitierten Beispiele sind bei Brittnacher das 19. und frühe 20. Jahrhundert, doch wird auch die longue durée des Zigeunerbildes in seinem Buch deutlich. Der Autor erweist sich als nicht nur ungemein kundig in der Geschichte der Oper und – vor allem der deutsch- und englischsprachigen – Literatur, sondern kennt sich auch in heutiger Populärkultur aus, und überrascht mit einem Beleg aus der Fernsehserie „Dr. House“. Die Andersartigkeit der dort auftretenden, nicht sofort als solche erkennbaren Zigeuner führt zu medizinischen Behandlungsproblemen, die wiederum auf Schwierigkeiten im Zusammenleben zwischen Roma und „Gadsche“, den Nicht-Roma, verweisen.

Glutäugige Fiedler und verführerische schwarzhaarige Schönheiten gehören zum unerschöpflichen und, so scheint’s, unverzichtbaren Motivschatz der Kunst. Um Lebenswirklichkeit geht es dabei nicht, sondern um Fantasien der Mehrheit über eine Minderheit, deren Armut und Andersartigkeit poetisiert werden und so stets ihre Fortschreibung finden. Misstrauen und Ablehnung sind dabei immer präsent, und wenn die Poetisierung wegfällt, bleiben sie allein übrig. Brittnachers auf vordergründige Aktualisierungen verzichtendes, materialreiches Buch ist ein wertvoller Baustein zu einer Kulturgeschichte des Fremden und seiner Ausgrenzung.

Titelbild

Hans Richard Brittnacher: Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
395 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835310476

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