Dissertation als Komposition?

Katharina Müllers Studie über Michael Haneke ist ein Experiment, das an seinen hohen Ansprüchen scheitert

Von Michael DuszatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Duszat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Katharina Müllers Haneke ist ein Buch mit hohem Anspruch: Laut Werbetext möchte es die „umfassendste Einzelstudie zu Werk und Erfolg“ des Filmregisseurs Michael Haneke sein. Gleichzeitig, heißt es dort, verwehre es sich allen „üblichen Interpretationen“. Die Autorin selbst schreibt, sie wolle „das gemeine filmwissenschaftliche Verständnis von Film einmal komplett erschüttern“. Das klingt nach einem innovativen, eigenständigen Werk, das nicht nur einen besonderen Platz in der Liste der Haneke-Bücher einnehmen möchte.

Müllers Ansatz kann man auf jeden Fall als radikal bezeichnen, insofern sie eines der traditionellen Motive der Wissenschaft, das Forschen nach Gründen, für irrelevant hält: „Diese Warum-Fragen“, sagt Müller, „das interessiert mich nicht“. Was sie stattdessen interessiert, lässt sich allerdings nicht auf eine einfache Formel bringen. Das Erkenntnisinteresse der Autorin zu verstehen, ist nicht leicht, da man zumindest am Anfang nicht weiß, worum es eigentlich gehen soll. Der Untertitel „Keine Biografie“ lässt alles offen. Geht es also nur um Hanekes Filme? Oder geht es auch um Haneke als Person, aber nicht in Form einer Biografie? Oder doch um etwas völlig anderes?

Insbesondere zwei Aspekte sollen das Buch auszeichnen: Zum einen hat sich Müller einen speziellen theoretischen Hintergrund ausgesucht, zum anderen versucht sie, für die Untersuchung eine alternative Form der Darstellung zu finden. Bei der besonderen Darstellungsform handelt es sich um eine „Komposition“, und diese Form folgt in gewisser Hinsicht aus dem theoretischen Hintergrund, der „Akteur-Netzwerk-Theorie“. Deshalb ist der eigentlichen Untersuchung ein „Wissenschaftlichkeitsteil“ von knapp 100 Seiten vorangestellt, den die Autorin auch mit dem etwas verwirrenden Begriff „Masturbation“ betitelt, und der das Konzept zu erläutern versucht.

In diesem ersten Teil stellt Müller ihre Ausgangsthese vor, die sie hauptsächlich von Bruno Latour adaptiert. Sie lautet in etwa: Das Phänomen Haneke lässt sich als ein Netzwerk verstehen, in dem sich alle möglichen „Akteure“ bewegen – und das sind nicht nur Menschen und Filme, sondern auch Dinge, Bilder, Ereignisse, Orte, Wörter. Diese Akteure seien weder von vornherein noch überhaupt definierbar, also grundsätzlich instabil. Praktisch alles könne eine Funktion im Netzwerk Haneke haben: Eine Filmkopie, die nicht pünktlich ankommt, ein Übersetzungsfehler bei einer Pressekonferenz und die Architektur einer Festival-Treppe könnten genauso wichtig sein wie die Frage, welche Figuren in einem Film vorkommen, wer sich warum und wie an der Produktion beteiligt hat, oder warum jemand einen Film überhaupt drehen wollte.

Wofür genau diese Dinge wichtig sein könnten, sagt die Autorin nicht explizit. Die Diskussion um Haneke solle aber durch die Ausweitung des Untersuchungsgegenstands von kontraproduktiven Denkmustern befreit werden, wie sie Müllers Ansicht nach in filmwissenschaftlichen Ansätzen eine Rolle spielen. Problematisch findet sie in erster Linie die Vereinnahmung Hanekes durch traditionelle Konzepte wie „Autorenfilm“, „nationales Kino“ oder „Intention“. Auch steht sie den verbreiteten Praktiken von Filmkritik und Interpretation skeptisch gegenüber, die sie eher als ideologische Vereinnahmung denn als Wissenschaft versteht.

Welche Folgen hat das Netzwerk-Konzept für Müllers zweiten, etwa 270 Seiten umfassenden Untersuchungsteil? Auf den ersten Blick sieht dieser mit „Komposition“ betitelte Teil ganz normal aus: Er ist in Kapitel eingeteilt, übersichtlich geordnet nach Hanekes Filmen. Ungewöhnlich ist höchstens, dass die erste Ebene der Gliederung vorwärts (von 0 bis 16), die zweite Ebene aber rückwärts (von 71 bis 17) gezählt wird: Wir fangen also mit Kapitel 0.71 an und hören mit Kapitel 16.17 auf, ohne dass klar würde, warum.

Entscheidend für das Verständnis dieses Hauptteils sind sowohl die Form als auch die Funktionen, die Müller ihm zuschreibt. Es handle sich, sagt sie, um „eine Versammlung von Stimmen und Material von und zu ‚Haneke‘ […], inszeniert als eine Chronik des Zufalls, von der anzunehmen ist, dass sie viel beschreibt und nichts erklärt“. An anderer Stelle beschreibt Müller ihre Arbeit als „eine unter dem weitestgehenden Verzicht auf Bewertung realisierte Versammlung von Stimmen und Material zu ‚Haneke‘, was immer sich damit assoziieren lässt“.

Hier handelt es sich also offenbar um eine Art Montage – eine Form der Darstellung, die auf explizite Auslegung verzichtet und ihr Material zwar in eine zeitliche Ordnung, aber nicht in eine kausal-narrative oder eine analytisch-systematische Ordnung zwingen möchte. Der Grund dafür ist offenbar der Wunsch, die These vom Netzwerk „Haneke“ mit einem entsprechenden Stil abzubilden, also ein Buch zu schreiben, das selbst eine Art Netzwerk von Assoziationen ist, ein Buch also, in dem sich alle möglichen Akteure bewegen, ohne dass sie sich festzurren ließen, und ohne dass so getan würde, als sei die Ordnung der Dinge überhaupt erklärbar.

Wie sieht Wissenschaft aus, die weder bewerten noch nach Ursachen fragen will? Hier kommt das Konzept „Komposition“, ein ebenfalls von Latour adaptierter Begriff, ins Spiel: Obwohl in einer „Chronik des Zufalls“ der Zufall eine große Rolle spielen wird, sollen wir es trotzdem nicht mit einem zufälligen Text zu tun zu haben, wie ihn Borges’ Bibliothek von Babel schreiben könnte. Komposition als Verfahren der Darstellung lässt sich dagegen wohl so verstehen, dass die Bestandteile zwar bewusst in Abgrenzung zu einer Rhetorik der Erklärung (oder auch Erzählung) arrangiert sind, dass sich beim Lesen aber trotzdem eine Art Ordnung oder Logik erfahren lässt. Denn es sei nicht so, sagt Müller, dass es bei einer reinen Sammlung von Einzelteilen bleibe, dass also Analyse und Einordnung des Ganzen überhaupt nicht stattfänden. Eine Position der Autorin solle sich, im Gegenteil, durchaus erschließen lassen: „Mein Kommentar“, sagt Müller, „ergibt sich aus der Form, der Anordnung dieser Stimmen“.

Komposition als Darstellungsform und der Verzicht auf herkömmliche wissenschaftliche Fragen rücken das Buch in die Nähe der Kunst. Wie Müller betont, gehe es ihr trotzdem in erster Linie um Forschung und Erkenntnis: „Es ist die Aufgabe des Forschenden, die Konjunktionen für die Assoziationen zu finden und zu platzieren“, paraphrasiert sie Latour. Die „Konjunktionen“ wiederum, also die verschiedenen Möglichkeiten, Dinge im Text zu montieren, seien dazu da, „Fakten zusammenzuführen, um sie in ihrer Faktizität beben zu lassen. So sehr mitunter, dass sie zerschellen“.

Eine Studie, in der Fakten beben und zerschellen und in der allein die Anordnung Erkenntnis verspricht – das klingt nach ereignisreicher, sozusagen poetischer Wissenschaft. Aber auch wenn das versammelte Material mitunter durchaus interessant ist – Müller sammelt so viele Akteure, und in so wenig nachvollziehbarer Weise, dass einem schwindelig werden kann. Weil es keine Zusammenfassungen oder Einleitungen gibt, bekommen wir darüber hinaus keinerlei Atempause und keinerlei Leitfaden, sondern springen permanent durch Raum und Zeit. Nie ist vorhersehbar, worum es als nächstes geht oder warum ein Bild auf das nächste folgt: Was Haneke einmal gesagt hat, was ein Techniker einmal gesagt hat, was die Autorin selbst einmal gesagt hat: Alles wird zusammen in einen Topf geworfen, ohne dass ersichtlich würde, warum, und ohne, dass daraus etwas Neues entstünde.

Dass das Buch sich in weiten Teilen als uninspiriert und fade erweist, hat weniger mit der Wahl einer alternativen Methode als vielmehr mit deren Ausführung zu tun. Die künstlerische Montage lebt traditionell nicht nur von ihrem Material, sondern gerade auch von den Effekten der Bruch- und Verbindungsstellen. Bei Müller aber passiert kaum etwas zwischen den unzähligen montierten Bestandteilen des Textes: Die „Konjunktionen“, die zu finden sie sich zur Forschungsaufgabe macht, sind entweder nicht vorhanden, zu schwach oder zu wenig einleuchtend. Und dass es keine Zusammenfassungen, Erklärungen, oder Abstraktionen zwischen den Einzelteilen der Montage gibt, erhöht den Druck auf die Verbindungsstellen. Denn sie müssten ja leisten, was sonst durch andere, weniger glamouröse Mittel erreicht werden kann: Sie müssten uns überzeugen, weiter zu lesen. Diesem Druck hält Müllers „Komposition“ nicht lange stand.

Reines Zusammenstellen oder Aufzählen von Material wird oft als Vorarbeit zur eigentlichen Wissenschaft betrachtet, weil es an sich eben nur wenig Erkenntnisse liefern kann. Diese Ansicht herauszufordern und eine alternative Form der Forschung zu probieren, ist ehrenwert. Aber die Gefahr, dass ein solches Experiment schiefgeht und sich die erhoffte Komposition in Chaos auflöst, ist natürlich groß. Denn wer sich ganz auf das Sammeln, Beschreiben und Anordnen verlässt und darüber hinaus die Synthese und Beurteilung aller Befunde zwischen den Zeilen verstecken möchte, braucht dafür das nötige kombinatorische Geschick und Handwerk. Sonst kann leicht der Verdacht entstehen, hier habe jemand einfach keine eigene Haltung entwickeln können und versuche nun, diesen Mangel durch einen auffälligen Stil zu überdecken.

Haneke ist ein in weiten Teilen gescheitertes und letztlich auch selbstverliebtes Experiment. Denn eine Dissertation, die alles Bisherige umwerfen, aber niemandem etwas erklären will, bleibt eine Art Privatvergnügen. Dass Müller allen, die etwas aus ihrer Studie lernen wollen, die meiste Arbeit selbst machen lässt, wird besonders deutlich im angehängten Interview mit Michael Haneke: Hier spricht die Autorin auch über ihr eigenes Buch, und als der Regisseur sie fragt, was dessen Fazit sei, ist die Antwort: „Das verrate ich Ihnen nicht.“

Titelbild

Katharina Müller: Haneke. Keine Biografie.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
424 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783837628388

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