Bürgerliche Aufrichtigkeit zwischen Hofkultur und der Intransparenz der Zeichen

Zu Simon Bunkes und Antonio Rosellis „kleinem Lexikon der Aufrichtigkeit im 18. Jahrhundert“

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den Konzepten, die im Zusammenhang mit der Herausbildung eines bürgerlichen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert stehen, gehört ‚Aufrichtigkeit‘ als selbst- und gesellschaftsregulierender Diskurs. Aufrichtigkeit mit all ihren Überschneidungen zu verwandten Schlüsselbegriffen wie Natürlichkeit, Naivität oder Authentizität stellt die zentrale Technik zur Produktion von Identität – und Bewahrung von Selbstidentität – wie auch zur Produktion und Reproduktion einer sozialen Gruppe dar. Sie garantiert idealiter intra- und intersubjektiv die Transparenz des Subjekts. Die Forschung zum Themenkomplex orientierte sich in Wiederholung der bürgerlichen Abgrenzungsbewegung dabei oftmals entweder am Anderen der „Aufrichtigkeit“ – an der „Verstellung“ – oder am Begriff der „Natürlichkeit“, der aufgrund seines diffusen Charakters das eigentliche Problem im schlimmsten Fall eher verstellte.

Simon Bunke, der die Emmy-Noether-Gruppe „Aufrichtigkeit in der Goethezeit“ an der Universität Paderborn leitet, hat zusammen mit seinem Mitarbeiter Antonio Roselli nun in dezidierter Schärfung der Perspektive das „Kleine Lexikon zur Aufrichtigkeit im 18. Jahrhundert“ publiziert, das durchaus als – im besten Sinne – popularisierende Darstellung des Forschungsprogramms der Nachwuchsgruppe gelten kann. In kurzen, skizzenhaften Artikeln zu wichtigen Begriffen, Werken und Autoren des Aufrichtigkeitsdiskurses legen Bunke und Roselli die Bandbreite und Komplexität des Themas dar. Das Spektrum reicht von A wie „Amour-propre“ bis Z wie „Zeit“, und deckt einen Zeitraum vom 16. Jahrhundert (Castigliones Libro del Cortegiano) bis in die Romantik (Tiecks Blonder Eckbert) ab. Die rund neunzig, meist ein- bis zweiseitigen Einträge, widmen sich einschlägigen Autoren (Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Denis Diderot, Immanuel Kant, Christian Thomasius und anderen) und ihren Werken genauso wie sozialen Praktiken („Beichte“, „Eid/Schwur“), Gattungen („Brief/Briefroman“) oder Abstrakta („Ehrlichkeit“, „Tugend“).

Der Auswahl der Lemmata gelingt es – trotz unvermeidbarer Willkür – hervorragend, sowohl ein Verständnis für die zeitgenössischen Debatten wie auch für ihre historischen Bezugspunkte zu schaffen. Das Ideal des Redners als „vir bonus“ wird genauso angesprochen wie die Spannung zwischen Aufrichtigkeit als soziale Praxis und „Authentizität“, die zumindest potentiell gesellschaftsdestabilisierend wirkt: „Während also die Aufrichtigkeit sozial integrativ […] wirkt, definiert sich die Authentizität in Opposition und Abgrenzung zur Gesellschaft.“ Insbesondere die Betonung des gespannten und widersprüchlichen Verhältnisses zwischen höfischem Verhaltensideal und der eigentlich als Abgrenzung fungierenden „Aufrichtigkeit“ des Bürgertums gelingt ausgesprochen gut: Was als am Ideal der Selbsttransparenz sich orientierende Praxis gegen die „höfische Verstellungskunst“ begann, steht ebenso wie der Hofmann vor dem Problem der Intransparenz der Zeichen; auch die Fokussierung auf unwillkürliche, nonverbale Zeichen, „die in einem unmittelbaren Verhältnis zum Inneren“ zu stehen scheinen, verhindert weder die Uneindeutigkeit noch den Verdacht einer möglichen, bewussten Lenkung und strategischen Nutzung der vermeintlich unbewussten Zeichen: „Vom Pathos der Natürlichkeit getragen, leidet die Aufrichtigkeit an einer Art ‚Rhetorikvergessenheit‘, da sie die ‚Rhetorik des Unrhetorischen‘, derer sie sich bedienen muss, nicht immer mitreflektiert.“

Dass das Lexikon über alle seine Einträge hinweg diese heimliche und nur allmählich konturierte Kontinuität zwischen Hofkultur und Bürgertum betont, gehört sicherlich zu seinen großen Stärken. Bunke und Roselli führen damit das von Claudia Benthien und Steffen Martus im Band Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert (2006) begonnene Programm für das 18. Jahrhundert fort. Ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Auch in diesem Zusammenhang finden sich Aussagen, deren Mehrwert – womöglich der Gattung „Lexikon“ geschuldet – fragwürdig ist, etwa wenn betont wird, dass in der Abgrenzungsbewegung des „aufrichtigen“ Bürgertums „Schmeichelei, Verstellung und Unaufrichtigkeit“ der höfischen Gesellschaft zugesprochen werden, dies jedoch nur eine „diskursive Strategie zur Produktion von Identität“ darstelle und somit nicht als „‚ontologische Aussage‘ […], als objektive Beschreibung realer Unterschiede“ zu lesen sei – es drängt sich die Frage auf, ob der hier angesprochene „naive Leser“ überhaupt zur Zielgruppe des Lexikons gehört.

Sicherlich kann man sich über die Relevanz des einen oder anderen Eintrags streiten; die halbe Seite zum Lemma „Weimarer Klassik“ etwa wäre verzichtbar gewesen. Sie doppelt sich auffällig mit den jeweiligen Einträgen zu Schiller und Johann Wolfgang von Goethe, und wird – leider – auch nicht dazu genutzt, zumindest im Vorbeigehen Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder oder Karl Philipp Moritz eine (sei es auch widersprüchliche) Position im Gegenstandsbereich „Aufrichtigkeit“ zuzuweisen. Letzteres wäre aber genau das gewesen, was man von einem Lexikon erwarten sollte – nicht neue Erkenntnisse, aber doch eine Vermessung des Themenspektrums. Solchen überraschenden Lücken (auch die „Erfahrungsseelenkunde“ wird zwar erwähnt, bringt es aber auf kein eigenes Lemma) stehen auf der anderen Seite eine erfreuliche Vielseitigkeit und lesenswerte komparatistische Ausrichtung gegenüber. Hier wird nicht der germanistische Spezialistendiskurs „Goethezeit“ aufgerollt, sondern das Thema „Aufrichtigkeit im 18. Jahrhundert“ mit seinen relevanten Bezugs- und Anknüpfungspunkten in den (west-)europäischen Literaturen und Kulturen, in Humanismus und Renaissance und auch der Rhetoriktradition aufgezeigt. Die Vertiefung der im Lexikon geleisteten Skizzierung des Gegenstandsbereichs leisten unter Beibehaltung der komparatistischen Geste und historischen Tiefendimension die aktuellsten Publikationen der hochaktiven Emmy-Noether-Gruppe.

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Simon Bunke / Antonio Roselli: Kleines Lexikon der Aufrichtigkeit im 18. Jahrhundert.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2014.
256 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783865254221

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