Vollendete und unaufdringliche Sprachkunst

Über den Büchner-Preisträger 2014 Jürgen Becker

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Einige experimentelle Werke des Kölner Schriftstellers Jürgen Becker sorgten bereits bei ihrem Erscheinen für Aufsehen und wurden zu Signaltexten der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur. Als er 1967 für eine Lesung aus seinem damals gerade entstehenden Prosabuch „Ränder“ den letzten Literaturpreis der zerfallenden Gruppe 47 erhielt, ehrte die Gruppe damit vor allem einen jungen Vertreter des literarischen Experiments, wie es der Kölner Literaturwissenschaftler Walter Hinck einmal formulierte.

Der jüngst erschienene Band „Fluxus und / als Literatur – Zum Werk Jürgen Beckers“, herausgegeben von Anne-Rose Meyer-Eisenhut und Burkhard Meyer-Sickendiek, zeigt uns die enorme Ausstrahlung der Fluxus-Bewegung in den 1960er und 1970er Jahren auch auf diesen Autor. Vor allem die intensive Zusammenarbeit mit dem Künstler Wolf Vostell hinterließ deutliche Spuren in seinem Werk. Der Band versucht Beckers Position im Kontext der literarischen Avantgarde zu verorten.

Vor zwei Jahren, zu Beckers 80. Geburtstag, erschien der jüngste Gedichtband „Scheunen im Gelände“ mit Collagen von Rango Bohne, verlegt  von der Stiftung Lyrik Kabinett. „Man sollte diese melancholischen Gedichte (mit den Bildern seiner Frau Rango Bohne) getrost wie ein berührendes Geschenk annehmen, das uns Jürgen Becker zu seinem 80. Geburtstag gemacht hat,“ so Michael Krüger in seinem Nachwort. Zehn Jahre zuvor, zum 70. Geburtstag der beiden Künstler, erschien das Gemeinschaftsprojekt „Häuser und Häuser“ mit 35 Bildern von Rango Bohne, in denen Jürgen Beckers Texte nach Impulsen suchen, die sich in Wörter und Sätze übersetzen lassen, in Formen von Prosa. In den Bildern der Malerin hatte Jürgen Becker schon oft seine Motive für Gedichte und Prosastücke gefunden. Drei Bücher sind so entstanden: „Fenster und Stimmen“ (1982), „Frauen mit dem Rücken zum Betrachter“ (1989), „Korrespondenzen mit Landschaft“ (1996).

Im Frühjahr 2014 traf die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung die längst überfällige Entscheidung, Jürgen Becker den Georg Büchner-Preis zu verleihen, die höchste Literatur-Auszeichnung in Deutschland. Die späte Ehrung verdankt sich wohl auch dem Umstand, dass Becker dem lauten Getöse des Literaturbetriebs stets wohltuend fernstand. In ihrer Begründung bezeichnet die Jury den Schriftsteller als „maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie“. Er habe die Gattungsgrenzen von Lyrik und Prosa beharrlich neu vermessen und verändert. Seine Gedichte lebten aus einer sensiblen, sinnlichen, neugierigen Weltzugewandtheit und einer vollendeten, dabei ganz unaufdringlichen Sprachkunst.

Vor allem der Lyriker wird von der Akademie gewürdigt: „Bei aller bildlichen Brillanz und aller Lust am leuchtenden Detail der umgebenden Natur erkunden sie stets eine von den Spuren der Geschichte und ihren Katastrophen gezeichnete Landschaft. In Beckers Naturansichten durchdringen sich die Zeiten, Beobachtetes und Erinnertes, Persönliches und Historisches.“

Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbröl kam er 1950 nach Köln zurück und machte dort sein Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium wurde er freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. In einem Interview sagt er rückblickend über seine Arbeit im Studio: „Ja, das Radio war immer das Medium, was mir das nächste war. Ganz einfach auch diese Situation im Studio. Im Studio alleine sitzen, vor sich ein Mikrofon haben und etwas sprechen.“

Jürgen Becker lebt mit Rango Bohne in Köln und im Bergischen Land. Zu seinem umfangreichen lyrischen Werk gehören unter anderem „In der verbleibenden Zeit“ (1979), „Foxtrott im Erfurter Stadion“ (1993), „Dorfrand mit Tankstelle“ (2007) und „Scheunen im Gelände“ (2012). Jürgen Becker schrieb darüber hinaus Hörspiele und die beiden Prosabücher „Erzählen bis Ostende“ (1980) und „Die Türe zum Meer“ (1983), die Erzählung „Der fehlende Rest“ (1997) und seinen im Sommer 1999 erschienenen ersten Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“. Einen Durchgang zur Prosa aus fünf Jahrzehnten bietet der jüngst von Suhrkamp herausgegebene Band „Wie es weiterging“. Für alle Bereiche seiner Kreativität wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Peter-Huchel-Preis, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Hermann-Lenz-Preis und im letzten Jahr mit dem Günter-Eich-Preis.

Ein Band mit seinen Gedichten aus den Jahren 1993 bis 1997 trägt den Titel „Journal der Wiederholungen“. Durch die Überblendung des wahrgenommenen lebendigen Augenblicks mit den Bildern der Vergangenheit, ein für Becker kennzeichnendes poetisches Mittel, und durch die immer deutlicher werdende Rekonstruktion des Vergangenen wird neues Gelände betreten. Sein literarisches Verfahren, Bilder der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart zu erschaffen, erweitert und individualisiert den Lektürehorizont seiner Leser. Sucht man nach programmatischen Zeilen für das poetische Verfahren in Beckers Werk, so wird man in „Scheunen im Gelände“ fündig. In dem Gedicht „Zurück im Norden“ heißt es:

Ob es reicht, die fehlenden Teile zu finden,
den verschwundenen Lebenslauf … die Ränder
der Landschaft dehnen sich aus, wenn die Erinnerung
mitmacht und den Rest der Geschichten
aus ihrem Schlaf holt. Der Himmel

hier hört nie auf. Du kannst dich weiterbewegen,
weiter bis hin zu den Pappeln, von wo
das Geraschel kommt und das Seufzen der Küste.

Literaturhinweise:

Jürgen Becker: Scheunen im Gelände. Gedichte. Mit Collagen von Rango Bohne. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2012.

Jürgen Becker: Wie es weiterging. Ein Durchgang Prosa aus fünf Jahrzehnten. Suhrkamp, Berlin 2012.

Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Jürgen Becker. Edition Text + Kritik, Heft 159, München 2003.

Anne-Rose Meyer-Eisenhut / Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.): Fluxus und / als Literatur. Zum Werk Jürgen Beckers. Edition Text und Kritik, München 2014.

Hinweis der Redaktion:

Eine Übersicht zu den bisher in literaturkritik.de erschienenen Artikeln über Jürgen Becker steht in der Juni-Ausgabe 2014.