Skizzenbücher eines Studenten

Felix Hartlaub über „Hitlers Berlin“ in den Jahren 1934 bis 1938

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Student irgendwann in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre. Berauscht von der eignen Großartigkeit redet er sich ein, dass ihm „ein rascher akademischer Aufstieg“ bevorstehe. Daran glaubt er umso fester, als er sich eines Morgens in seine Antrittsvorlesung hineinträumt: „vor einem internationalem Publikum, an einem lorbeerumwundenen Pult“. Zwar wird das Thema „nicht ganz klar“, aber es ermöglicht ihm, „in scharfer und gleichzeitig eleganter Weise mit dem herrschenden Regime abzurechnen“. Während das Publikum beifällig murmelt, blicken die Vertreter der Regierung „beschämt und nachdenklich zu Boden“. Tatsächlich ist es nicht weit her mit der Karriere, nicht Eifer erfüllt ihn, sondern ein Hang zur Bummelei, das Frühstück nimmt er erst am Nachmittag ein, nicht ohne sich über die „Bedingtheiten des bürgerlichen Tageslaufes“ zu mokieren. Er schaut aus dem Fenster, blickt voller Hochmut auf die werktätige Bevölkerung, die aus den Betrieben heimwärts strömt. Statt der Wissenschaft zu frönen, geht er in sein Stammcafé, auf dem Rückweg findet er in der Manteltasche ein Schreiben von zu Hause, wo man dringend offenbar ausgebliebene Nachrichten einfordert: Der junge Mann, der sich an autosuggestiven Fantasien berauscht, so scheint es, steht immer noch unter Kuratel des Vaters.

Das mutet an wie ein Einbruch der Realien in die hier stark verknappt nachgezeichnete Humoreske, die Felix Hartlaub unter dem Titel „ein Tag meines Lebens“ im Februar 1937 geschrieben hat. Ein paar Tage später nämlich trifft ein Brief des Vaters ein, der sich über die „lustlose Unfruchtbarkeit“ des Filius beklagt und stattdessen „anschauliche, eingehende, farbige Berichte“ verlangt. Der Vater, das war Gustav Friedrich Hartlaub, der Direktor der Mannheimer Kunsthalle, den die Nationalsozialisten im März 1933 aus dem Amt gedrängt hatten. Obwohl diese Erfahrung tiefen Zwiespalt hinterließ, versuchte er, wie er seinem Tagebuch anvertraute, sich „aufgeschlossen und objektiv zu halten für das zweifellos Elementare“, das sich in der ‚braunen Revolution‛ manifestiere. Er sei bestrebt, heißt es weiter, „dass die Kinder möglichst ohne viel Ressentiments und mit gutem Glauben an das unzweifelhaft Positive“ in das „Dritte Reich“ Einlass fänden.

Felix, der Sohn, hatte mittlerweile seine Zelte in der Reichshauptstadt aufgeschlagen, studierte Geschichte und Romanistik. Sein akademischer Mentor war Walter Elze, ein George-Anhänger, seit 1933 Mitglied der NSDAP und Professor an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der ihn 1939 promovierte. Mag sein, dass die ambivalente Haltung im Elternhaus, wo man sich um eine halbwegs unvoreingenommene Würdigung der Geschehnisse bemühte, auf ihn abgefärbt hatte. Er selber war sich durchaus im Klaren, was zu gewärtigen sei. „Eine ‚objektive‛ Wissenschaft“, ließ er im April 1933 Werner Meyer, seinen ehemaligen Lehrer an der Odenwaldschule, wissen, „wird es in Deutschland nicht mehr geben, entweder ist man drinnen in der Bewegung, dann gibt es viele Lebensmöglichkeiten, oder man ist eben in jeder Hinsicht isoliert“. Der Vater beobachtete am Sohn eine „schier unerträgliche Spannung der Gegensätze“, verkörpert einerseits in Elze, andererseits in der 1938 nach Paris emigrierten Erna Gysi, Kommunistin und Jüdin, Mutter seines Freundes Klaus Gysi, die zuständig war für Liebe und Literatur.

Abgesehen von seiner Doktorarbeit, hat Felix Hartlaub, dessen Spuren sich 1945 in der Schlacht um Berlin verlieren, zu Lebzeiten nichts publiziert. Das, was wir an literarischen Texten kennen, stammt aus dem Nachlass, nach dem Krieg betreut und größtenteils ediert von der zwei Jahre jüngeren Schwester Geno, die damit für ein gewisses Maß an Nachruhm sorgte. Seither gilt er als „Frühbegabter“, dem das Schicksal Entfaltung und Vollendung verwehrt hat. Die Skizzen aus „Hitlers Berlin“, herausgegeben, kommentiert und mit einem instruktiven Nachwort versehen von Nikola Herweg (Literaturarchiv Marbach) und Harald Tausch (Universität Gießen), rufen einen weithin vergessenen Autor wieder ins Gedächtnis. Einige Stücke, die sie abdrucken, waren schon in der von Geno Hartlaub besorgten Gesamtausgabe (Frankfurt 1955) greifbar, andere werden hier erstmals zugänglich gemacht. Sie fügen dem bekannten Bild ein paar Facetten hinzu, revidieren es nicht, könnten aber dazu anregen, sich neuerlich mit einem Schriftsteller zu beschäftigen, der erst noch einer werden wollte, literarische Fingerübungen veranstaltete und Material für spätere Projekte zusammentrug.

Auch Hartlaub war nicht völlig unempfänglich für bestimmte Aspekte im Habitus und in der Physiognomie des NS-Staates. Über eine von der SA organisierte, vormilitärische Übung, die er als Student an der Heidelberger Universität absolvieren musste, schrieb er dem Vater, die dort herrschende „menschliche Atmosphäre“ habe ihm wenig zugesagt, unter den „Führern“ gebe es jedoch „großartige Typen“, durch die „Verbindung von Militärischem und Parteijüngertum“ sei „etwas sehr Gediegenes entstanden“. Zugleich ironisierte er in einer Folge von Zeichnungen die eher misslichen Erlebnisse im Wehrsportlager. „Einzig im Prüfungsfach ‚Tarnen‛ konnte der Schütze Hartlaub die Zufriedenheit seiner Vorgesetzten erwecken“, heißt es in einer der Bildlegenden. Dazu passt, was er 1938 seinem Bruder Michael riet, als dieser zum obligatorischen Reichsarbeitsdienst einrücken musste. Wie ein roter Faden durchziehen die 10 Gebote, die er aufstellte, die Mahnung: „Du sollst nicht auffallen, weder in Leistung noch in Versagen.“ Im übrigen solle er sich an die Arbeiter und nicht an die Studenten halten. Denn nur im Gespräch mit jenen könne er „etwas über die heutigen Realitäten“ erfahren. Das sei eine „einmalige Lebenschance“, fügte er hinzu.

Geno Hartlaub hat von „Tarnkappe“ gesprochen, die das „sichtbare Dasein“ des Bruders „auslöschen“ sollte, um ihn so zum „unbestechlichen Zeugen der Ereignisse“ zu machen. Tatsächlich tritt er als Person hinter die geschilderten Begegnungen zurück. Es sind Beobachtungen, stichwortartig hingeworfen, zum Teil nur Bruchstücke, in der Regel ohne ausdrückliche Bewertung, jedenfalls zurückhaltender formuliert als in den späteren Notaten aus der Kriegszeit (Im Sperrkreis, 1955), die, zumal als es auf das Ende zuging, eine sehr viel entschiedenere Distanz, auch Ekel erkennen lassen. In den Skizzen aus dem Berliner Studentenleben ist dergleichen kaum zu finden. Insofern ist von „Hitlers Berlin“, wie der Titel suggeriert, nichts bis wenig zu spüren.

Einmal allerdings ist es präsent. In der Bibliothek sitzt der „bekannte Platonforscher Cohn“, neben ihn hockt sich „ein hochgewachsener S.S.student“ nieder, „arbeitet eine halbe Stunde zackig, bekommt dann Gedankenentzündung und schreckliche Faltenbildung auf der Stirn, grausiges Gähnen zerreißt sein Gesicht, er reibt sich die Augen, schaut nach der Uhr“, entschließt sich, vorzeitig zum Mittagessen zu entschwinden. Unterdessen hat sein Nachbar „drei Zeitschriftenaufsätze“ rezipiert. Hartlaub bedient sich hier eines Stereotyps, gewiss, aber es ist anders konnotiert, gewissermaßen ins Positive gewendet, denn fähig zu ernsthafter, konzentrierter Arbeit ist nicht der Nazi, sondern der Jude. Eine Wendung wie „eunuchenhaft verfettete jüdische Philosophen“, die in diesem Zusammenhang auftaucht, löst jedoch Irritation aus.

Titelbild

Felix Hartlaub: Aus Hitlers Berlin. 1934 bis 1938.
Herausgegeben von Nikola Herweg und Harald Tausch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
129 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518224892

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