Zu dieser Ausgabe

Es ist schon auffällig, wie sich einige unserer Autoren derzeit produzieren. Anfang der neunziger Jahre schien Botho Strauß ("Anschwellender Bocksgesang") das Erbe Hans Jürgen Syberbergs antreten zu wollen, der als politisches Enfant terrible der achtziger Jahre ("Die freudlose Gesellschaft") versucht hatte, rechtes Denken wieder salonfähig zu machen. Ein Blick zurück zeigt jedoch, daß Botho Strauß schon 1984, in seinem Roman "Der junge Mann", mit seltsamen Thesen aufgetreten war. "Unserer Lossagung vom Übel", hieß es dort, "folgte ein übles Lossein". Die Abwendung von Hitler, als "dem schlimmsten aller Deutschen", sei "das nicht minder große Grauen der vollkommenen Lossagung" gefolgt. Strauß blieb damals bewußt dunkel, denn die Ausführung seiner Thesen wäre ungeheuerlich gewesen. Ende der neunziger Jahre sind unsere Autoren deutlicher und massiver geworden: 1998 bediente Martin Walser mit seiner Friedenpreisrede ganz bewußt die Stammtische; spätestens seit 1996 ("Winterliche Reise") denkt auch Peter Handke in Nationalismen und schlägt verbal um sich, daß es kaum zu fassen ist. Für alle drei Autoren scheint zu gelten, daß sie keinen Gesichtsverlust mehr fürchten (müssen), daß ihnen der Beifall von der falschen Seite gelegen kommt, daß fünfzig Jahre sozialwissenschaftliches Denken und historische Ursachenforschung spurlos an ihnen vorbeigegangen sind. Botho Strauß hat die Soziologie immer entschieden abgelehnt; er kann, wie seine beiden Dichterkollegen, offenbar nur in Verschwörungstheorien denken, die derzeit wieder Konjunktur haben. Die drei Autoren haben in den Medien den jeweiligen Hauptverschwörer ausgemacht: Die Medien, so glauben sie, haben sich gegen ein "normales" Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte verschworen, gegen die Serben oder gegen die tradierten Werte und Normen der Gesellschaft.

Man glaubt zu träumen und möchte am liebsten den bösen Spuk einfach abschütteln. Doch es geht nicht, zumal wir uns gegenwärtig erneut mit einem Völkermord konfrontiert sehen - quasi vor unseren Augen im Kosovo. Es hat nichts mit moralischer Nötigung zu tun, wenn wir uns von der Erforschung des Nationalsozialismus Aufschluß darüber erhoffen, wie wir künftig solche Verbrechen verhindern. Deshalb auch beschäftigt sich die Juni-Ausgabe von literaturkritik.de ausführlich mit dem Holocaust und dem Problem der Erinnerung. Betreut und eingeleitet hat den Schwerpunkt Geret Luhr, Assistent am Institut für neuere deutsche Literatur und Medien der Universität Marburg und redaktioneller Mitarbeiter von literaturkritik.de. Luhr war Stipendiat des Rosenzweig Foschungszentrums in Jerusalem und hat vor einigen Monaten seine Dissertation über Walter Benjamin und die jüdische George-Rezeption abgeschlossen.

Die Debatte über die Rolle der Nato im Kosovo-Krieg zeigt erneut, wie die Erinnerungen an den Holocaust uns prägen. Sie dienen nun dazu, das militärische Eingreifen der Nato zu rechtfertigen. Die von uns abgedruckten Beiträge fragen, wie die zahlreichen Stellungnahmen der Intellektuellen zum Krieg einzuschätzen sind.

In den schon eingeführten Rubriken bieten wir darüber hinaus Beiträge zu Neuerscheinungen aus Belletristik und Sachbuch. Ein Goethe-Schwerpunkt und ein Schwerpunkt zu Don DeLillo setzen weitere Akzente in dieser bisher umfangreichsten Ausgabe von literaturkritik.de. Dem Themenschwerpunkt "Gefühl - Emotion und Kognition" in Nr. 2/3 von literaturkritik.de fügt diese Nummer zwei Warnungen hinzu.

Lutz Hagestedt