Immer Kredit, nie Substanz

Felix Martins Ideen- und Mediengeschichte des Geldes erklärt den sozialen Schmierstoff und seine Krisen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geld ist ein Leitmedium, über dessen Wesen, Funktionsweise und Problematik – trotz seiner Wichtigkeit – unter Wissenschaftlern bis heute keineswegs Konsens besteht. Geld als Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel ist ein unverzichtbarer sozialer Schmierstoff. Es ermöglichte einen reibungsarmen Güterhandel und wandelte dabei viele soziale Beziehungen von macht- und weisungsförmigen Verhältnissen in geldvermittelte Tauschbeziehungen. Zugleich ist Geld in mancher Hinsicht aber auch schmierig im Sinne von eklig, abstoßend und schwer zu greifen: denn Geld kann als riesiges Vermögen (oder als Armut), als Inflationsgeld, als Schmiergeld oder durch Finanzkrisen soziale Krisen sowie ungerechte Wohlstandsverhältnisse herbeiführen.

Der englische Wirtschaftswissenschaftler, Vermögensberater und Journalist Felix Martin hatte vor der jüngsten Finanzkrise über die Geschichte des Geldes promoviert. Nun nutzt er sein gelehrtes und praktisches Wissen um seine so informative wie thesenstarke „wahre Geschichte des Geldes“ zu erzählen. Ihn interessieren – im Gegensatz zu anderen vorliegenden Geldgeschichten – weniger die zahlreichen medialen Erscheinungsformen des Geldes (die Geschichte der Münzen und Banknoten) oder die Anekdoten über seine Emittenten oder seine unzähligen Krisen und Kollapse. Martin geht es vielmehr um das Wesen des Geldes. Wie sein Untertitel schon indiziert, hält er das gängige Verständnis des Geldes als eine Art Ware, die als Tausch- und Maßmittel für alle Waren fungiert, für falsch.

Das Wesen des Geldes sei von Anfang an bis heute vielmehr der gewährte Kredit respektive sein Komplement: die aufgenommenen Schulden. Diese Kredite und Schulden seien älter und de facto als Buchgeld stets viel umfangreicher gewesen als die umlaufenden Metallstücke, Münzen oder Papiergeldscheine. Die gängige These einer Entwicklung vom Naturalientausch über Metallgeld hin zu modernem Papiergeld, elektronischen Kreditkarten oder Giralgeld wird von Felix Martin mit überzeugenden Beispielen kritisiert. Das schon im altertümlichen Zweistromland dokumentierte Notieren von Schulden und Krediten liegt den Ausprägungen dieser Schuldzeichen als Münzen oder Papiere zugrunde. Geld sei bloß eine Sonderform des Kredits – und nicht umgekehrt. Ein mediengeschichtliches Überlieferungsproblem führte zum weitverbreiteten, systematischen Missverständnis der Geld- und Kreditgeschichte: weil Münzen lange Zeiten überdauern, Schuldverschreibungen in Form von Kerbhölzern, Papier oder anderen Schriftmedien hingegen über die Jahrhunderte zerfallen, verbrennen und verloren gehen, hielten viele Wirtschaftshistoriker und Geldtheoretiker die metallenen Zahlungsmittel für die wesentlichen Elemente des Geldsystems und unterschätzten die Rolle von Kreditbeziehungen.

Sehr anschaulich berichtet der Geldtheoretiker als Historiker von wichtigen Stadien der Ideen- und Realgeschichte der Geldverhältnisse. Diese seien als zwischenmenschliche Beziehungen aus Kredit/Vertrauen und Schulden genuin soziale Tatsachen und eben keine naturwissenschaftlich zu behandelnden Gegenstände, wie es eine auf Geld als Ware beruhende Wirtschaftstheorie so hartnäckig wie vergeblich zu modellieren versucht. Wichtig ist für Martins Geld-Definition, dass nicht jeder Kredit zugleich schon als Geld fungiere. Nur übertragbare Schuldscheine (die mithin die Beziehung zwischen zwei Subjekten übersteigen können), sind als Geld zu begreifen. Die Entstehung des Geldes situiert der auch altphilologisch versierte Engländer in der Antike. Vor allem im nach-homerischen Griechenland kamen die drei zentralen, ideellen und sozialen Elemente zusammen, aus denen das Geldsystem emergierte: Die neuartige Denkabstraktion universeller Werteinheiten, also eine Wertordnung, die alle möglichen Dinge, Dienste, Leistungen auf einen Wertnenner bringt und somit Abgabenordnungen (die auf diversen Naturalien für diverse Sphären beruhte) ersetzen konnte; zweitens ein System von Konten, das die Haben- und Sollsalden von Individuen und Institutionen erfasste; schließlich drittens die Möglichkeit der Übertragbarkeit von Schulden von einem Gläubiger auf andere Gläubiger.

Eine archäologische Geschichte der Währungen – die diese richtig versteht als soziale Kredit-Technologien und nicht als Objekte – erkunde die „Ideen, Praktiken, Institutionen […] insbesondere aber die Idee des abstrakten ökonomischen Wertes, die Praktik der Buchführung und die Institutionen der dezentralen Übertragbarkeit.“

Für Martin dienen Homers Epen als wichtige Quellen für eine Zeit unmittelbar vor der Erfindung des Geldes. Diese Narrative zeigen, wie Gesellschaft traditional und autoritär ohne Geld als dynamische Soziotechnik organisiert wurde. Im vorgeldlichen Griechenland waren Beute-Teilung im Krieg respektive Gastgeschenke und Opferfleisch-Teilung im Frieden die zentralen Distributionspraktiken. Buchhaltungstechniken als ökonomische Aufschreibesysteme wurden schon früher, um 3.100 v. Christus in Tempelökonomien im mittelöstlichen Zweistromland entwickelt. Kaum zu überschätzen sind die sozialen Auswirkungen des neuen Geldmediums auf die gesellschaftliche Mobilität durch die Umstellung von Naturalien-Abgabenverpflichtungen auf Geldtribute in den griechischen Stadtstaaten des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Revolutionäre Umwälzungen begannen dort durch die – erst über 2.000 Jahre später vollauf begriffene – Idee, alle gesellschaftlichen Funktions- und Wertbereiche (von Staatsabgaben über Religion bis zu Alltagskonsumgütern) ließen sich durch eine soziale Logik und Technologie des Feilschens und Rechnens mittels Geld regeln. Dabei wurde der Grundwiderspruch des vereinheitlichten Wertmediums laut Martin schon von den Griechen in ihrem Midas-Mythos und auch in zahlreichen Tragödien verarbeitet: Geld als soziale Technologie macht uns von den anderen abhängig; zugleich sondert sie die Einzelnen ab, indem die diversen menschlichen Beziehungen auf das quasi mechanische Räderwerk der finanziellen Beziehungen reduziert werden.

Geldfragen sind stets auch Machtfragen. Dies wird deutlich bei den von Martin referierten Debatten im 18. Jahrhundert. Denker wie John Locke und Adam Smith hielten das Geld für eine Ware; Gold und Silber als Tauschmittel haben ja tatsächlich auch einen Nutzwert und weisen Produktionskosten auf. Der Projektemacher John Law hielt das Geld hingegen für eine Schöpfung des Souveräns. Felix Martin stimmt Laws Einsicht zu, auch wenn er im Bereich der Politik die liberaldemokratischen Ansichten Lockes favorisiert. John Law habe trotz seiner monarchistischen Vorstellungen über den rechtmäßigen Souverän gleichwohl das Wesen des Geldes als menschlich steuerbares Kreditinstrument richtig begriffen. Die Aufklärer stritten über folgende, bis heute politisch virulente Frage: Ist Geld ein Mittel des Souveräns, das dieser möglichst besonnen zu seinen Regierungs-Zwecken einsetzen soll – wie es schon lange formuliert war in alten chinesischen Theorien oder in Nikolaus von Oresmes Tractatus? Oder sind Währungen und Finanzmärkte eher eigenmächtige Institutionen, die den Souverän bändigen und „die Torheit der Despotie“ zügeln. Privates Geld fungierte schon damals in Form von Kreditgeschäften großer Handelshäuser als eine Art Parallel- oder Gegenwährung gegen staatliche Münzen und allfällige Münzverschlechterungen durch schlecht haushaltende Monarchen.

In einer Art historischem Kompromiss zwischen Politik und Kaufleuten führte William Patersons genialer Plan einer Public-Private-Partnership 1694 zur Gründung und lange bestehenden Funktionstüchtigkeit der Bank of England. Das Managementwissen und die Besonnenheit der Londoner Kaufleute wurden gepaart mit dem staatlichen Privileg, Banknoten auszugeben. So kam der König zum benötigten Kredit, denn die neuen Staatsanleihen fanden aufgrund der soliden Kaufmannschaft mehr Gläubiger als das staatliche Geld zuvor. So wurde der Geldumlauf erhöht und stabilisiert. Dieser Kompromiss zwischen Staatsmacht- und Staatsinteressen und Kaufmannschaft kann als direkter Vorläufer heutiger Geldregime gelten. Denn noch immer ist Bargeld ein Zeichen (token) für eine Forderung gegen den Souverän, während das allermeiste Geld aus Konten, also aus Krediten/Forderungen von und gegen (private) Banken besteht. Patersons gut funktionierende Bank of England und die sie tragende Konzeption des kaufmännisch regulierten, souverän emittierten und garantierten Geldes herrschte, bevor die von Martin (etwas irreführend) als ‚konventionelle‛ Geldtheorie bezeichnete Naturalisierung des Wertes und des Geldes als Metallklumpen auf die Szene trat und das wirtschaftliche und monetäre Denken – schädlicherweise – lange dominierte.

John Lockes Plädoyer gegen flexible Währungsstandards und Steuerungsmöglichkeiten des Souveräns beschränkte die wirtschaftspolitischen Spielräume durch seine Festlegung auf strikte Metalldeckung. Die seinen Vorschlägen folgende Politik führte zum Untergang des Silberstandards nach wenigen Jahrzehnten, woraufhin Gold als Deckungs-Standard folgte – und damit der lange Zeit weitverbreitete Irrglaube, das Pfund Sterling sei nichts anderes als eine bestimmte Menge Goldes. Mit Adam Smiths Modell des Freihandels und einer unsichtbaren Hand des Marktes ging die Apotheose der Marktwirtschaft einher. Allerdings wurden Bedeutung und Funktionsweisen des Gelds aufgrund der Theorien von Locke (der Geld naturalisierte) und von Smith – dessen Modell der Marktgleichgewichte die Rolle von Geld und Schulden ignorierte – in den nachfolgenden Wirtschaftstheorien und entstehenden Wirtschaftswissenschaften weitgehend ausgeblendet. Lockes Modell tat, als sei Geld (wegen seiner Identität mit einem Metall) ein Teil der physikalischen Welt und als erfordere die Währungsregulierungen nur quasi physikalische Sorgfalt statt politischer Entscheidungen und ethischer Abwägungen. Er übersah, dass schon die Wahl eines Metalls eine politische Entscheidung mit weitreichenden Folgen war. Statt des von ihm intendierten Zeitalters der Objektivität in der Wirtschaftspolitik (ohne schädlichen Währungsmissbrauch durch Fürsten) etablierte Locke ein Zeitalter der unkritischen Vorurteile im Gelddenken.

Und als nach dem Zweiten Weltkrieg die universitäre Erforschung der Finanzwirtschaft einsetzte, war diese wiederum für den großen Zusammenhang des Ganzen genauso blind; spiegelverkehrt einseitig zur Blindheit der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie für die Finanzmärkte. Die an Marktpreisbildung für Aktien und Wertpapiere interessierte Theorie der Finanzmärkte, die Investitions- und Spekulationspraktiken an Wertpapiermärkten analysierte und in rechenbare Modelle packte, vernachlässigte dabei den Hintergrund der Makroökonomie und die Fundamente der Währungsordnung, die gemeinsam von Banken und Staaten getragen werden.

Im Gegensatz zu Locke und anderen Metallisten begriff John Law, dass Geld übertragbarer Kredit ist und reflektierte über einen möglichst produktiven Währungsstandard für den abstrakten ökonomischen Wert. So beruhte das Papiergeld, das der Projektmacher Law propagierte, auf dem Vertrauen in den Geld emittierenden Souverän und eine maßvolle Schuldenaufnahme des Staats. Da sich die prassenden französischen Könige keiner großen Kreditwürdigkeit erfreuten, schlug Law vor, deren Schuldverschreibungen umzutauschen in Aktien der französischen Kolonialgesellschaften, die große Gewinne aus der Erschließung Nordamerikas (und weiterer Kolonialbesitzungen) versprachen. Nachdem Law auch das inländische Steuerwesen Frankreichs seiner riesigen Kolonialhandelsgesellschaft einverleiben durfte, wurde so die Währungskrise Frankreichs vorübergehend gelöst – und die Wirtschaft boomte. Doch folgte nach kaum einem Jahr der Crash der Law’schen Aktien-Geld-Gesellschaft und die Rückkehr einer goldgedeckten französischen Währung.

Felix Martin bewundert trotz des Scheiterns seiner Geldreform den konstruktiven Kern der Law’schen Ideen, die auf flexible Zahlungsversprechen setzen, also auf eine je nach Wirtschaftslage auf- oder abwertende Währung. Law habe im Gegensatz zur altgriechischen oder auch sowjetischen Geldskepsis die Produktivität eines Geldsystems für die Realwirtschaft erkannt. Doch zugleich habe er die Unhaltbarkeit statischer Gelddeckungen und fester Zahlungsversprechungen durchschaut und diese durch ein dynamisches System ersetzen wollen, in dem alle Geldverwender die Risiken und Chancen der Währung explizit tragen sollen – anstatt sie durch illusionäre Deckungsversprechungen des Souveräns oder vermeintlicher Metallwerte von dieser Schwankungsanfälligkeit des Geldes täuschend abzulenken. Durch Laws Vereinigung der einzigen (staatlichen) Bank und der riesigen staatlichen Wirtschaftsgesellschaft wurde das Geld umgewandelt in Anteile an dieser Wirtschaftsholding. Deren Aktien als umlaufendes Geld waren also so viel Wert, wie die Wirtschaftsgesellschaft produzierte. Leider produzierten die französischen Steuerbürger und die Kolonialbesitztümer jedoch weniger, als bei der Aktienausgabe und im Boom erwartet oder erträumt wurde. Der Crash dieser Aktien/Kreditscheine war die Folge. Laws Idee finde jedoch ihre Wiederaufnahme nach dem Bretton-Woods-Abkommen, das 1973 den Goldstandard endgültig abschaffte zugunsten seither gänzlich ungedeckter Währungen, deren Kurs an den Währungsbörsen schwankt je nach dem Vertrauen der Geldbenutzer in die zukünftige Werthaltigkeit der jeweiligen Währungen.

Wenn das richtig verstandene Geld also ein genuin soziales Faktum ist, etwas Gemachtes, dann stellt sich dringlich die politische Frage nach den Spielregeln des Kredit- und Schuldenmachens. Hier verbindet der Geldtheoretiker wieder antike Praktiken mit sehr heutigen Problemlagen der Schulden- und Finanzkrisen. Schon in der Kommandowirtschaft Mesopotamiens sicherte ein alle 50 Jahre vorgeschriebener Schuldenerlass die relative Gleichheit in der Gesellschaft und dadurch auch politische Stabilität und Wehrfähigkeit des Landes. In Athen setzte der weise Staatsmann Solon auf demokratische Prozesse, übernahm aber die orientalische Idee des periodischen Schuldenerlassens.

Staatsgeld könne auch heute seine Funktion nur solange zuverlässig erfüllen, wie es die Möglichkeit der Neujustierung der Verteilung finanzieller Risiken gebe. Während bei physikalischen Maßstäben (Metermaß, Gewichte etc.) wichtig ist, dass diese dauerhaft fixiert sind, sei es bei sozialen Wertmaßstäben gerade andersherum. Im Dienste von Freiheit und Gerechtigkeit stellen flexible Währungsstandards gleichsam Sicherheitsventile zum Druckausgleich bei Wirtschafts- oder Finanzkrisen dar – Ventile, die freilich nicht mehr von Fürsten sondern demokratisch kontrolliert werden sollten. Die Notenbankpolitik Europas seit den 1990er-Jahren sei hingegen viel zu einseitig auf die (erreichte) niedrige Inflation fixiert und vernachlässige Risiken und Blasenbildungen im Finanzsystem, die schließlich zur großen Finanzkrise 2008 führten.

Martins „wahre Geschichte des Geldes“ fordert also Schuldenabbau durch höhere Inflation oder direkte „Restrukturierung der Schuldenlast“ – vermutlich meint er eine Umschuldung zu Lasten von Gläubigern oder erhebliche Steuererhöhungen. Bloße Konzentration auf moderate Inflation führe zu unerträglichen Ergebnissen im Hinblick auf eine gerechte Gesellschaft. Für Martin muss eine gut gesteuerte Währungspolitik nicht nur Geldwertstabilität, sondern auch Werte wie Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit unter Bürgern berücksichtigen. Im Namen dieser anderen Werte solle also der Geldwert schwanken. Wenn es der sozialen Gleichheit oder Gerechtigkeit dient, solle die Kaufkraft eines Euros steigen oder fallen, so Martins Empfehlung, die freilich die Erfahrungen und Probleme mit Keynesianischer Wirtschafts- und Geldpolitik seit den 1950er-Jahren nicht berücksichtigt.

Die jüngste Vergangenheit zeigte: privates Geld in Form immenser Geldschöpfung der Banken und Versicherungen durch Derivate funktionierte (durchaus produktiv) in guten Zeiten – nicht aber in schlechten Zeiten, wo die Rolle des Staates als Rückversicherung und letzter Kreditgeber plötzlich überlebenswichtig war. 300 Jahre schien eine solche große monetäre Übereinkunft vernünftig – doch offenbarte die letzte Finanzkrise, dass die Kosten- Nutzenverteilung zwischen privaten Banken/Investoren und öffentlicher Hand/Steuerzahlern zuletzt höchst unfair war: Gewinne wurden über Jahre privatisiert, die Kosten für den Auffang des kollabierenden Systems mussten dann alle gemeinsam tragen.

Felix Martin diskutiert zwei extreme Lösungsmöglichkeiten, die diesen moralisch unbefriedigenden Zustand beenden könnten: zum einen die völlige Privatisierung des Geldwesens, mithin keine staatliche Rückendeckung mehr, sondern nur noch private Haftung. Zum anderen die konsequente Verstaatlichung des Geldwesens. Das hieße: alle Gewinne, aber auch Verluste des Finanzwesens würden kollektiv getragen. Im Anschluss an Vorschläge des Ökonomen Irving Fisher aus den 1930er-Jahren plädiert ein Buch für eine rigide Trennung des Finanzwesens in zwei Sphären: Scheckbanken („narrow banking“) wären gewissermaßen Lagerhäuser für Inhaber-Geld (Sichteinlagen) und durch Staatsgarantie voll versichert. Alle anderen Bankaktivitäten (mit Privatpersonen, Körperschaften oder Firmen) wären ohne jegliche Aufsicht frei zu geben, müssten aber auch ohne jede staatliche Garantie auskommen. Alle Marktteilnehmer wüssten dann um das Risiko aller Geschäftsbeziehungen mit diesen Investmentbanken (Nicht-Narrow-Banken), die dann wie alle Kapitalmarktaktivitäten großen Schwankungen und Ausfallrisiken ausgesetzt seien. Mit britischen Humor bezeichnet Martin seine radikalen Vorschläge als „Kreuzung aus Karl Marx, Ayn Rand und den Gebrüdern Grimm“.

Dem englischen Geldforscher gelingt es im Schlusskapitel, seinen sich über 3.000 Jahre erstreckenden Plot von der Geschichte des Geldes noch einmal als einen Krimi pointiert zu remixen. Die Rolle des Mörders, der den gesunden Menschenverstand und eine sozial verträgliche Modellierung des Finanzwesens auf dem Gewissen hat, spielt der Philosoph Locke, dem – trotz aller Verdienste ums politische Gemeinwesen und eine liberale Verfassung – im finanzökonomischen Bereich, in dem er nicht erfahren war, folgenschwere Denkfehler unterliefen.

Neben die buchstäblich notwendige Reform des Finanzsystems muss für Felix Martin logischerweise auch eine der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung treten: Umsichtiges Wissen um Politik und Geschichte, um Psychologie und Ethik sei für Finanzpraktiker im öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Bereich Voraussetzung, werde heutzutage im mathematisierten Studium jedoch nicht vermittelt. Mit Keynes hält Felix Martin die Volkswirtschaftslehre für ein geisteswissenschaftliches, kein naturwissenschaftliches Fach. Seine eigene, gelehrt und anschaulich erzählende und argumentierende Geldkunde ist mit ihrem Bezug auf Dichter, Denker und Wirtschaftsdaten ein schönes Beispiel für eine solche integrative Wissenschaft von den Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten – auch wenn einen Martins Parteinahme für radikale Lösungen der Schuldenkrisen (die gewiss nicht risikolos und macht- wie sozialpolitisch allemal heikel scheinen) nicht rundweg überzeugen mögen.

Zu all dem bietet dieses sehr lesenswerte und lehrreiche Buch von Felix Martin eine vorbildliche, überschaubare, knapp kommentierte Bibliografie, die aufzeigt, auf welchen wichtigen Werken der Archäologie, Wirtschafts- und Doktringeschichte er aufbaut. Nachahmenswert wie sein anschaulicher Argumentationsstil ist auch dieser Umgang mit seinen wichtigsten Quellen und Anregungen.

Titelbild

Felix Martin: Geld, die wahre Geschichte. Über den blinden Fleck des Kapitalismus.
Übersetzt aus dem Englischen von Thorsten Schmidt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014.
380 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045928

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