Von den Wikingern zum Jugendstil. Altes und Neues von den Nibelungen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte meinen, über die Nibelungen sei längst alles gesagt. Dass das nicht so ist, liegt nicht nur an der prinzipiellen Unabschließbarkeit der Interpretation, die niemals in der Lage ist, die Fülle der Sinnperspektiven von Werken wie dem Nibelungenlied endgültig zu fixieren. Es kommt hinzu, dass unser positives Wissen – unsere Kenntnis des Stoffes, seiner Gestaltungen und Umgestaltungen – auch nach zweieinhalb Jahrhunderten gelehrter Arbeit höchst lückenhaft ist. Immerhin stehen die Chancen, Lücken zu schließen, heute besser denn je. Der Entwicklungsstand der philologischen Methodik und die systematische Erfassung der mittelalterlichen Bild- und Textzeugnisse, die in den letzten Jahrzehnten mit großem Aufwand betrieben wurde, eröffnen ganz neue Zugänge. Der vorliegende Band vermittelt einen Eindruck davon. Er versammelt Beiträge zur Nibelungensage und zum Nibelungenlied, die in den Jahren 1987 bis 2012 entstanden sind, druckt sie aber nicht unverändert nach, sondern präsentiert sie in gründlich überarbeiteter Fassung auf dem aktuellen Stand der Forschung. Das Themenspektrum reicht von wikingischen Nibelungendarstellungen des frühen Mittelalters bis zur aufwendigsten aller Ausgaben des Nibelungenliedes, die der Jugendstilkünstler Josef Kaspar Sattler für die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 gestaltet hat.

Am Beginn steht der Versuch, die Nibelungensage, die vielen als der „deutscheste aller deutschen Stoffe“ (Heiner Müller) gilt, in einen europäischen Zusammenhang zu stellen („Die Nibelungensage als europäische Heldensage“). Im Vergleich mit der altgriechischen Troiasage und der karolingischen Rolandsage zeigt sich, dass die drei Überlieferungen Vertreter ein und desselben Erzähltyps sind, der durch Inhalt, Form und Funktion definiert ist. Dabei erweist sich einmal mehr die Homer-Forschung als Lehrmeisterin. Es wird aber auch deutlich, dass sie ihrerseits von den neueren Philologien profitieren könnte: Der „neue Streit um Troia“, der in den letzten anderthalb Jahrzehnten so erbittert geführt wurde, erweist sich im Licht der vergleichenden Sagenforschung als Scheingefecht. – Die Nibelungensage ist zuerst in bildlichen Darstellungen des frühen Mittelalters bezeugt, u.a. auf skulpturierten Steinkreuzen und Gedenksteinen auf der Isle of Man, in England, Schweden, Norwegen. Es handelt sich offenbar um eine von den Wikingern entwickelte und gepflegte Tradition. Der zweite Beitrag („Siegfried in Navarra“) erörtert die Bedeutung solcher Zeugnisse für unsere Kenntnis der Sage. Eine ikonographische Bestandsaufnahme erlaubt es, ein Bildzeugnis des 12. Jahrhunderts zu identifizieren, das sich an einem Ort befindet, an dem man die Nibelungen zuletzt erwarten würde: Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Skulptur eines Drachenkämpfers über dem Südportal der Kirche Santa María la Real in Navarra Siegfried darstellen soll.

Die Fachleute sind sich einig, dass das Nibelungenlied im Auftrag des Bischofs Wolfger von Passau verfasst wurde. Die Frage ist, was den Kirchenfürsten, der auch ein Landesherr war, bewogen hat, in das Unternehmen zu investieren. Der dritte Beitrag des Bandes („Der Donauraum als Mnemotop“) versucht zu zeigen, dass es ihm darum zu tun war, dem Bistum bzw. dem Hochstift Passau eine prestigeträchtige Vergangenheit – ein „Herkommen“ – zu verschaffen, das den Ausbau seiner Landesherrschaft kulturell fundierte. Man nimmt an, dass es in Passau eine Art „Nibelungenwerkstatt“ gegeben hat, in der in rascher Folge verschiedene Fassungen des „Nibelungen-Buches“ – des Werkverbunds von Nibelungenlied und Nibelungenklage – erarbeitet wurden. Die Fassungsbildung hat sich in der handschriftlichen Überlieferung niedergeschlagen, und sie ist im Tradierungsprozess bis ins 15. Jahrhundert hinein fortgesetzt worden. Eine Überblicksdarstellung zeichnet diesen Prozess nach („Die Handschriften des Nibelungenliedes und die Entwicklung des Textes“), eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen überlieferungsgeschichtlichen Forschungen geht ins philologische Detail („Zu den Handschriftenverhältnissen des Nibelungenliedes“).   

Im Zentrum des Bandes steht der titelgebende Aufsatz („Traditionelles Erzählen“). Gegen den naiven Irrglauben, man könne das Nibelungenlied „aus sich selbst“ heraus verstehen, wird im Rückgriff auf Friedrich August Wolf und die Forschungsgeschichte zur Homerischen Frage erläutert, dass die Art von Heldendichtung, zu der das Nibelungenlied gehört, darauf angelegt ist, im Bezug auf eine umfassende Erzählwelt wahrgenommen zu werden, mit der Dichter und Publikum vertraut waren. Es kennzeichnet die Poetik dieses Erzählens, dass seine Ökonomie über eine textexterne Instanz – die Erzähltradition, die Sage – gesteuert wird. Was das für die Textgestaltung im Einzelnen bedeutet, verfolgen Beiträge zur Nibelungenüberlieferung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit („Im Horizont der Sage“), zur epischen Struktur des Nibelungenliedes („Gnade für Hagen?“), zur Rolle Dietrichs von Bern im Nibelungenlied („heldes muot“) und zur späten Fassung n des Nibelungenliedes („Wiedererzählen in der Heldendichtung“). In dieser Fassung, die in einer Handschrift des 15. Jahrhunderts überliefert ist, werden alte Erzählvarianten aufgegriffen, die der Dichter des Nibelungenliedes einst verworfen hatte. Sie müssen aus mündlicher Überlieferung stammen, und es spricht einiges dafür, dass der Redaktor aus ihr nicht nur vereinzelte Motive übernommen, sondern ein komplettes Heldenlied von Siegfrieds Tod eingearbeitet hat. Das Faszinierende daran ist, dass man dieses Lied nicht rekonstruieren muss, sondern als ganzes aus dem epischen Text herausschneiden kann. Das eröffnet einen einzigartigen Einblick in die Welt der Mündlichkeit, die uns sonst nur indirekt zugänglich ist.

Eine Gruppe von vier Aufsätzen zur Rezeption des Nibelungenstoffs in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts beschließt den Band. Behandelt werden zunächst die noch dem Klassizismus des 18. Jahrhunderts verpflichteten Bilderfindungen des genialen Bodmer-Schülers Johann Heinrich Füssli („Siegfried oder Achill?“). Sie vermitteln eine Vorstellung davon, wie eine Nibelungenrezeption hätte aussehen können, die nicht dem nationalistischen Paradigma verpflichtet gewesen wäre. Dieses ist etwa gleichzeitig mit den Arbeiten Füsslis im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durchgesetzt worden. Für die bildende Kunst hat es Peter Cornelius aufgegriffen, dessen Nibelungen-Zyklus aus den Jahren 1812 bis 1817 im Anschluss an die Bilder Füsslis analysiert wird („Bilder fürs Vaterland“). Die von Cornelius erfundene „altdeutsche“ Ikonographie, die die Nibelungen als Bilderbuch-Deutsche in die Dürerzeit versetzt, beherrscht die Nibelungenillustration der folgenden Jahrzehnte. Sie wird zum Ende des Jahrhunderts von einer Ikonographie abgelöst, die die Nibelungen als Bilderbuch-Germanen zeigt. Diese neue, bis heute nachwirkende Auffassung ist wesentlich von Carl Emil Doepler geprägt worden, dem Kostümbildner der ersten Gesamtaufführung von Richard Wagners Ring des Nibelungen im Sommer 1876. Um Doeplers Entwürfe geht es im vorletzten Beitrag („Indianer-Häuptlinge in Walhall“). Ihn ergänzt ein für den vorliegenden Band geschriebener Exkurs zu den Illustrationen zweier Prachtausgaben des Nibelungenliedes von 1840/41 und 1843/1867, die Wagner gekannt haben muss. Sie sind der Cornelius-Ikonographie verpflichtet, die er in einem Brief an Doepler kategorisch abgelehnt hatte. Am Ende steht eine Beschreibung und Analyse der Sattlerschen Nibelungenlied-Ausgabe („Abkehr vom Historismus“). Gezeigt wird, dass und wie Sattler mit seiner Jugendstil-Ästhetik auf höchstem künstlerischem Niveau einen radikalen Bruch mit allen Traditionen der Nibelungendarstellung vollzieht.

In dem Band ist viel von Bildern die Rede. Ein umfangreicher Abbildungsteil sorgt für die nötige Anschauung.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeitern der Zeitschrift sowie Angehörigen der eigenen Universität. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

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Joachim Heinzle: Traditionelles Erzählen. Beiträge zum Verständnis von Nibelungensage und Nibelungenlied.
ZfdA Beiheft 20.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2014.
348 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783777624075

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