Im Herz der Hölle

Stilsicher, atmosphärisch, knallhart – „Ruhet in Frieden“, nach einem Roman von Lawrence Block, ist die beste Krimi-Verfilmung des Jahres

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Jenseits des ebenso verlockend wie verlogen glänzenden Manhattan lauert das wahre Leben. Es ist ein ewiger Nachmittag im Regen unter grauem Winterhimmel, ein Aufenthalt inmitten von verwahrlosten Hinterhöfen und trostlosen Abrisshäusern. Auf der dunklen Seite New Yorks lebt man nicht; man überlebt. So wie Matt Scudder (Liam Neeson), Ex-Polizist, Ex-Alkoholiker, Ex-Etablierter. Nachdem er vor acht Jahren bei einer Schießerei versehentlich ein unschuldiges Mädchen tötete, ist er zwar trocken, aber ein gesellschaftlicher Aussenseiter. Quasi zur selbstgewählten Buße hat er sich von anderen separiert, existiert als Schatten unter Schatten. Ein Eremit im urbanen Stein.

Seinen Lebensunterhalt verdient er als nichtlizensierter Privatdetektiv. Über einen Kumpel bei den Anonymen Alkoholikern gerät er an den Drogendealer Kenny Kristo (Dan Stevens), dessen Frau gekidnappt wurde und trotz Lösegeldzahlung nur als zerstückelte Leiche wieder auftauchte. Matt Scudder soll die Täter finden. Es stellt sich heraus, dass die Entführung Teil einer Mordserie ist und zwei perverse Psychopathen schon auf der Suche nach einem neuen Opfer sind. Im brutalen Kraftfeld aus Schuld und Sühne versucht Matt Scudder die Balance zu halten. Moralische Gewissheiten gibt es keine. Alles ist verhandelbar – außer Rache.

Mit desillusionierter Kantigkeit

Solche Kompromisslosigkeit zählt zu den Kennzeichen des amerikanischen Autors Lawrence Block (geb. 1938). Nach über 50 Romanen und noch viel mehr Kurzgeschichten hat er sich als einer der bedeutendsten Krimischriftsteller der Gegenwart etabliert. Neben der Agenten-Reihe ’Evan Tanner’ und der Meisterdieb-Serie ’Bernie Rhodenbarr’ haben vor allem seine inzwischen 17 ’Matthew Scudder’-Werke Berühmtheit erlangt. Sie sind ’Urban Noir’ in Vollendung, Blicke in die labyrinthische Düsternis von Menschen und Städten. Gewalt ist hier Alltag, Leid schon Gewohnheit, Verzweiflung längst Normalität. Als Teil dieses Kosmos aus Verbrechen und zwielichtigen Randexistenzen hebt sich Matt Scudder mit seinem pragmatischen, wenig gesetzeskonformen Ethos und der antibürgerlichen Lebensweise einerseits kaum ab, bekämpft andererseits dessen mörderische Auswüchse. Sein Fatalismus schlägt nie endgültig in Zynismus um. Vielmehr hat sich seine Figur seit dem ersten Scudder-Krimi „The Sins of the Fathers“ (1976) kontinuierlich entwickelt, ist nicht nur älter geworden, sondern reifer. Aber nicht angepasster.

In Liam Neeson findet die Romangestalt einen kongenialen filmischen Ausdruck. Mit abgeklärt-desillusionierter Kantigkeit, schuldbeladener Lakonie und jener kaltblütigen Tatkraft, die nur ’Hard-boiled’-Helden, Gangstern oder rauen Outlaws eigen sind, wandert er einsam durch den Großstadtdschungel, stets auf der Suche nach Vergebung. Annehmen würde er sie freilich nie. Sein Passionsweg ist von ihm selbst vorgezeichnet. Nur das Schicksal kann ihn noch ändern, vielleicht in Gestalt des obdachlosen Teenagers TG (Brian ’Astro’ Bradley), der sich an Scudder hängt und vom Gehilfen zum Gefährten wird. Alles ist käuflich – außer Nähe.

Unter verhangenem Himmel 

Bislang wurde erst ein Scudder-Krimi verfilmt, und zwar „8 Millionen Wege zu sterben“ (1986) von Hal Ashby. Die Adaption ist wenig geglückt, schon allein, weil der Schauplatz von New York nach Los Angeles verlegt wurde. Dabei spielt die Ostküstenmetropole eine entscheidende Rolle bei Lawrence Block. New York ist keine Kulisse für das Geschehen, die City ist quasi selbst Protagonist. Mit ihrer sozialen Anonymität, architektonischen Enge, personellen Dichte und ihren gesellschaftlichen Gegensätzen verkörpert sie Charakter und Raum zugleich; sie formt, inspiriert und zeichnet Bewohner wie Ereignisse und wird wiederum durch sie geprägt.

Regisseur Frank Scott, der ebenfalls das packende Drehbuch mit etlichen Noir-Verweisen wie die Erwähnung von ’Philip Marlowe’ verfasst hat, scheint diesen Aspekt für seinen erst zweiten, auserlesen inszenierten Spielfilm verinnerlicht zu haben. Schon in seinem Erstling „Die Regeln der Gewalt“ (2007), einem kleinen, feinen Neo-Noir, hat er ein Gespür für Genre-Finesse gezeigt. „Ruhet in Frieden“ nun ist eine Offenbarung an Atmosphäre, ein düster-melancholischer (Alp-)Traum. Low-key-Photographie und entsättigte Farben sind da stilistische Ehrensache. Der endlos verhangene Himmel drückt auf City und Gemüt, Ruin sitzt allerorten, Mauern, Menschen und Milieu sind heruntergekommen. Anderswo stehen hingegen hübsche Stadthäuser als Zeichen des Wohlstands. Doch auch der ist befleckt, nämlich erworben durch Drogenhandel. Das bürgerliche Konzept von Recht, Gesetz und staatlicher Sanktion, ohnehin längst aufgeweicht, versickert in den Winkeln der schäbigen Strassen.

Die in ihrer stimmungsvollen Klarheit bestechende Kamera von Mihai Mălaimare Jr. fängt dieses ethische Niemandsland mit ungewöhnlichen Unter- bzw. Aufsichten ein und natürlich häufig bei Nacht. Dass die Geschichte im Jahre 1999 angesiedelt ist und durch ein tolles Productiondesign echten Retro-Chic entwickelt, akzentuiert nur das Flair. Keine Yuppie-80er, kein Netzwerk-Jahrtausend, sondern ein Interimsjahrzehnt. Umso passender, dass Matt Scudder ebenfalls einen Grenzgänger verkörpert, immer am Abgrund aus Skepsis und Skrupel entlangwandelnd. Alles ist möglich – außer Hoffnung.

Zwischen Trauer und Bedrohung

Das New York von Lawrence Block versammelt die klassischen Noir-Ingredenzien, ist freilich kein Klischee, sondern ebenso authentisch als Schauplatz wie plausibel in der sozialen und individuellen Psychologisierung. Vor allem die komplexe Charakterisierung der Figuren umgeht jede Eindeutigkeit. Frank Scott setzt diese Indifferenz mit einem starken Schauspielensemble meisterhaft für die Leinwand um. Allein Kenny, brillant von Dan Stevens mit eleganter Gefährlichkeit und kaum beherrschtem Schmerz dargestellt, lässt sich in kein Gut-/Böse-Raster einpassen. Sein Bruder Peter (Boyd Holbrook) wiederum ist von weitaus mehr Geistern verfolgt als seiner Drogensucht. Nur der Friedhofsmitarbeiter James Loogan (Ólafur Darri Ólafsson) hat noch üblere Dämonen im Schlepptau.

Frauen gibt es in dieser (Unter-)Welt voller Grauzonen keine und wenn doch, sind sie entweder ermordet, liegen im Koma und werden zu Opfern. Kein Wunder, sie gehören nicht dazu, haben die Misere weder geschaffen noch zu verantworten, müssen jedoch unter ihr leiden. Wie immer, sobald Mensch und Stadt ihr rohes Antlitz entblößen.

Ebenso wie der Soundtrack von Carlos Rafael Rivera reizvoll zwischen Traurigkeit und Bedrohlichkeit changiert, durchzieht den Neo-Noir-Thriller ein Schauer aus Ungewissheit. Selbstzweckhafte Action fehlt völlig, dafür bestürzen unerwartete Gewalteruptionen und diese bedrückende Spannung permanenter Angst. Eine zufällige Begegnung unter Fremden kann kurz die Einsamkeit durchbrechen. Oder den Tod bedeuten. Zu Recht wird einmal gesagt: „Everybody`s always afraid of the wrong thing.“ Gewalt, Skrupellosigkeit und sinnloses Sterben sind Teil der City. Sie stellt kein Sündenbabel voller Versuchungen dar, die ins Verderben führen könnten, sondern repräsentiert die einzelnen Höllenkreise. Zuletzt wird ins bitterschwarze Herz New Yorks vorgestoßen. Und das blutet schockrot. Alles ist erlaubt – außer Erbarmen.

Hin zur Erlösung

Der Originaltitel „A Walk among the Tombstones“ (der 10. Roman der Scudder-Reihe erschien 1992) trifft es perfekt: Niemand darf ein sanftes R.I.P. erwarten, sondern sollte froh sein, überhaupt noch auf seinen Beinen zu stehen. Selbst unter Grabsteinen. Lawrence Blocks unsentimentaler, unaufgeregter, schnörkelloser Schreibstil findet bei Frank Scott seinen Ausdruck in einer ruhig rhythmisierten Dramaturgie, die beinahe beiläufig, dafür unerbittlich vorandrängt. Hier ist alles im besten Sinne ’old school’. Schon die narrativ konventionelle, inszenatorisch hingegen grossartige Auftaktsequenz lässt ahnen, dass dem eben eingeführten Matt Scudder Schlimmes bevorsteht. Wer gerade drei Banditen ange-/erschossen hat und dann derart desinteressiert die Treppe zu den Opfern herunterläuft, den erwartet eine finstere Buße. John Donne hatte doch Recht, als er in der 17. Meditation schrieb: „No man is an island (…); any man`s death diminishes me, because I am involved in mankind.“

Erst im parkähnlichen Green-Wood Cemetery in Brooklyn während des finalen Shootouts findet Matt Scudder etwas wie Erlösung. Todesverachtend blickt er in den Lauf einer Pistole, um ein Kind zu retten, während im Off das spirituelle 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker zitiert wird. Mit deren Hilfe entkam er einst seiner Sucht; seiner Schuld hingegen nie. Immer wieder friert das Bild ein, um die Worte wirken zu lassen. Und immer wieder geht die Schießerei danach weiter. Wer sich mit Bestien wie den beiden barbarischen Psychopathen anlegt, kann nicht mittendrin aufgeben. So mündet der Showdown in einen radikalen Akt der Selbstjustiz, den Scudder womöglich gerne verhindert hätte, ihm freilich auch nicht im Wege steht. Gerechtigkeit hat viele Formen, die Wahrheit nur eine. Definieren muss sie allerdings jeder für sich.

Wie eine Noir-Silhouette hat sich „Ruhet in Frieden“ aus dem Zwischenreich des Ungefähren hervorgehoben, nur um zuletzt in die Stille eines heraufdämmernden Morgens zurückzusinken. Der Fall mag abgeschlossen sein, die Opfer sind gerettet bzw. gerächt und die Mörder gestoppt. Das Leben aber geht weiter in all seiner Bitterkeit. Manchmal jedoch kann selbst der dunklen Sonne ein Strahlen abgerungen werden. Dazu braucht es nichts weiter als ein schäbiges Hotelzimmer, einen schlafenden Streetboy auf dem Sofa, einen müden Mann am Tisch und eine handgefertigte Zeichnung, die zur Absolution wird. Alles ist bedeutungslos – außer Freundschaft.

„Ruhet in Frieden“ (USA 2014)
Regie: Scott Frank
Darsteller: Liam Neeson, Dan Stevens, Brian ’Astro’ Bradley, Boyd Holbrook
Ab 13.11. im Kino

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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