Eine junge, große Stimme Lateinamerikas

Zu Daniel Alarcóns wunderbarem neuen Roman „Des Nachts gehn wir im Kreis“

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nelson, der Protagonist in Daniel Alarcóns (geb. 1977 in Lima) neuem Roman „Des Nachts gehn wir im Kreis“ erlebt Kindheit und Jugend während der 80er Jahre in einem namenlosen Land, sicher Peru, als der Krieg tobte zwischen dem „Leuchtenden Pfad“ und den Militärs, der Terror omnipräsent war und den Alltag prägte. Jahre der Angst, wie sein Vater sagte. Dennoch ging eine mutige Theatergruppe damals auf Tournee in sogenannte Konfliktgebiete, wollte den Indios Kultur nahebringen, wie linke Ideologien verlangten. Ihr berühmtestes Stück hieß „Der dumme Präsident“ – und dafür kam sein Verfasser Henry Núñez nach einem zweifelhaften Prozess in eines der berüchtigten Gefängnisse Limas, denn der reale Präsident des Landes fühlte sich verunglimpft. Ein Skandal. In der Schauspielschule, die Nelson besucht, lebt der Mythos des grandiosen Henry weiter, obwohl man nichts mehr von ihm gehört hat.

Nelsons Traum von einem interessanten Leben in den USA zerbricht, als sein Vater plötzlich stirbt, die Mutter depressiv wird und Bruder Francisco nicht aus Amerika zurückkehrt. So konzentriert er sich auf seinen anderen Traum: Schauspieler zu werden, Theaterstücke zu schreiben. Auch hat er sich in Ixta verliebt, es ist eine intensive, freie Beziehung, und binden möchte er sich jetzt noch nicht. Plötzlich meldet sich Henry Núñez zurück, will sein legendäres Stück noch einmal aufführen, wieder in entlegenen Dörfern. Nelson spricht vor, wird engagiert, hofft so aus seiner Routine auszubrechen, Abenteuer mit Hilfe des Theaters zu erleben. Nach vielen Proben wird die lange Tour geplant. Einfühlsam und überzeugend beschreibt Alarcón, wie „Der dumme Präsident“ von den Indios gesehen wird, was der kleinen Truppe in den Andendörfern alles widerfährt. Die Einkünfte sind so bescheiden, dass sie gerade die Kosten für die Busreisen, Übernachtungen und das Essen decken, aber die Künstler sind glücklich: Sie werden geliebt und bewundert, die Dorfbewohner sprechen über das Stück. Henry, Patalarga (langjähriger Schauspielfreund) und Nelson verbringen viel Zeit miteinander. Die Eitelkeiten und der Egoismus Henrys sind oft schwer zu ertragen, nur wenig erzählt dieser jedoch von seiner Zeit im Gefängnis, das aus ihm einen anderen Menschen gemacht hat.

Alles ändert sich, als sie in das Dorf kommen, aus dem Rogelio stammt, der mit Henry die Zelle teilte und im Gefängnis bei einem Brand umgekommen ist. Was verband die beiden Männer? Sie suchen seine Familie auf, aber die demente Mutter weiß nichts vom Tod des jüngsten Sohnes, ist völlig verstört, als Henry ihn erwähnt. „Ihre Haut war ganz und gar knittrig, wie ein Stück Alufolie, das man zusammengeknüllt und dann mit der Hand wieder glattgestrichen hat“. Um sie zu beruhigen, wird schnell ein neues Szenario entworfen – Nelson schlüpft in eine andere Rolle, wird zum „Sohn“ und bleibt ein paar Tage – so die Vereinbarung.

Faszinierend zeigt Alarcón dieses Leben im Andendorf, in „einer Kultur, die der Wärme nicht traute, sondern sie für eine gelegentliche, vorübergehende Illusion hielt. Kälte ist beständig, ewig, verlässlich. Der Tag fängt damit an und hört damit auf“.

Aber alles kompliziert sich, Nelson möchte nur noch weg, zurück zu Ixta, die mit einem anderen Mann zusammenlebt und schwanger ist. Von ihm? Er weiß jetzt, dass er sie liebt, unbedingt mit ihr leben möchte, schreibt dies in sein Tagebuch. Aber er hat kein Geld für den Bus, der ältere Bruder Rogelios, stets in dunkle Geschäfte verwickelt, hatte ihm eine gute Entlohnung versprochen, bleibt nun aber unerreichbar.

Nelson gelingt die Flucht, aber in der Metropole wird seine Lage noch schwieriger. Schließlich wird er in eine Schlägerei verwickelt, es gibt einen Toten, und nur zu gerne sieht die Polizei in ihm den Schuldigen. Ohne viele nachzuforschen lautet das Urteil: 15 Jahre, und so kommt er in das gleiche Gefängnis, in dem auch Henry einsaß.

Ein Kreis scheint sich zu schließen. Und im Gefängnis „geht man Nachts im Kreis“, wie der Titel des Romans lautet, aber das lateinische Palindrom geht weiter: „und wird vom Feuer verzehrt“ .

Verzehrt wird Nelson von seinem Schicksal, das wir aus der Retrospektive von einem Journalisten erfahren, der seine Eltern im Dorf besucht hatte, genau dort als das konfuse Geschehen stattfand. Von Rogelios Schwester erhielt er damals die Tagebücher Nelsons und rekonstruiert sein Leben mit Hilfe vieler Gespräche, auch mit dem Protagonisten im Gefängnis, will eine große Story schreiben. Ist Nelson schuldig?

Alarcón hat genau recherchiert, hat Lurigancho, eines der brutalsten Gefängnisse Limas, mehrmals besucht, Kontakt zu Häftlingen gefunden. So erfahren wir viele Details über das (Über)Leben „drinnen“ – von Henry damals, von Nelson jetzt, vom Mit- und Gegeneinander der Häftlinge, von Droge und Korruption, von Macht und Machtmissbrauch.

Souverän entfaltet der Autor die ineinander verwobenen Geschichten, deckt immer neue Nuancen durch die verschiedenen Stimmen auf, die der Journalist zu Wort kommen lässt. Das Buch ist voll von Schaustellern, ein jeder scheint eine Rolle zu spielen – die Mutter, die im Namen des verstorbenen Ehemanns Leserbriefe publiziert, der Journalist, der gar nicht weiß, ob seine Geschichte gedruckt wird, Ixta, die zwischen dem Geliebten und dem neuen Partner steht, Henry, gefangen in der geheim gehaltenen Vergangenheit. Die vielen Perspektiven, aus denen Nelsons Drama beleuchtet wird, erlauben dem Leser, sich ein facettenreiches Bild zu machen von diesem traumatisierten Land, vom Leben in seinen Dörfern und der Stadt.

Alarcón, der mit drei Jahren in die USA kam, wo er auch heute lebt, schreibt Englisch, obwohl die Themen fast aller Erzählungen und auch des früheren Romans „Lost City Radio“ (dt. 2009) in Peru spielen. Er zählt zu den jungen, großen Stimmen Lateinamerikas. Aus der Distanz blickt er voller Empathie auf die Menschen, voller Kritik auf die Zustände seines Landes. Dies ist ein im besten Sinn ambitionierter politischer Roman: faszinierend zu lesen, weil er literarisch überzeugt und dem Leser viele unbekannte Welten nahelegt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Daniel Alarcón: Des Nachts gehn wir im Kreis. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Friederike Meltendorf.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
352 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132635

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